Sie waren so erwartbar, die Reaktionen auf die Wahl des AfD Kandidaten Tim Lochner zum Oberbürgermeister von Pirna. Es dauerte keine Viertelstunde, da erscholl in sozialen Netzwerken der Ruf, nun müsse Pirna als touristischer Ort boykottiert werden, andere forderten, die Mauer wieder aufzubauen – also alles, was wieder und wieder zu hören ist, wenn es um die Wahlerfolge der AfD im Osten geht.
Die kognitive Verdrängungsleistung mancher Kommentatoren dabei ist erstaunlich. Denn inzwischen punktet die AfD auch im Westen zweistellig, wie die Wahlergebnisse in Bayern und Hessen zeigen. Das ist kein Grund, nicht mehr über die ostdeutschen Ursachen des Erfolgs der AfD zu sprechen. Sie aber nur dort zu suchen, greift zu kurz. Der Erfolg der AfD speist sich aus Quellen
us Quellen sehr unterschiedlicher Herkunft, die sich jedoch derzeit alle zu einem stetigen Fluss der Normalisierung der Partei vereinen.Diese Normalisierung hat inzwischen das Momentum des Rechtsrucks abgelöst. Sie wird sich in dem Maße verstetigen, in welchem die AfD im kommenden Jahr in weitere Wahlämter gelangt, und somit in den Augen vieler, auch derer, die sie nicht gewählt haben, an Autorität und Legitimität gewinnt. Von daher ist die am Wahlabend zu vernehmende, ebenso wahre wie schlichte Aussage „Das Wahlergebnis ist zu akzeptieren.“ als Indikator dieser Normalisierung zu verstehen.Rechtsextreme Parteien einhegenDas hat Folgen. Es bedeutet, dass die in Westdeutschland erprobten und bewährten Mechanismen zur Einhegung rechtsextremer Parteien wie früher bei den REPUBLIKANERN oder der NPD und DVU nicht mehr greifen. Zumindest im Osten schreckt die Feststellung „Björn Höcke ist ein Nazi.“ in der Wählerschaft der AfD kaum noch wen. Der Appell an den moralischen Kompass eines Teils der Wähler geht fehl, weil sie diesem mit Indifferenz begegnen. Dies ist kein Anlass, die AfD nicht mehr rechtsextrem zu nennen, und die offenkundigen Parallelen ihrer Inhalte zu proto-faschistischen Entwürfen von Gesellschaft nicht mehr zu thematisieren.Viel stärker als bisher jedoch muss deshalb daran gearbeitet werden, jenen, die nicht zur Kernwählerschaft der AfD gehören, die ganz konkreten sozialen Folgen ihrer Wahl für Rentner, Erwerbslose und Kranke anhand des Abstimmungsverhaltens der AfD im Bundestag und in den Landtagen, und anhand ihrer Forderungen vor Augen zu führen. Und dies nicht in komplizierten Texten, sondern mit Grafiken, die schwarz auf weiß zeigen, was passiert, wenn die AfD etwa die Sozialpolitik mitbestimmt.Das Ergebnis der OB Wahl in Pirna hat seine spezifischen lokalen Ursachen und Voraussetzungen. Dazu gehört der frühe Erfolg der NPD in der Region ab Ende der 1990er Jahre und die Gewaltgeschichte der „Skinheads Sächsische Schweiz“. Und doch ist das Wahlergebnis in Pirna mehr als nur ein lokales Ereignis. Wie die Wahl von Robert Sesselmann zum Landrat von Sonneberg und die Wahl von Hannes Loth zum Bürgermeister von Raguhn-Jessnitz muss es als Vorzeichen für die zahlreichen Wahlen im kommenden Jahr angesehen werden.Den Umfrage-Erfolg der AfD stoppenDie AfD eilt von Umfragehoch zu Umfragehoch, nichts und niemand scheint der Partei derzeit schaden zu können. Rechtsextreme Parolen? Personalrochaden? Querelen um die Europawahlliste der AfD? Nichts von alledem tut dem prognostizierten Erfolg der AfD Abbruch. Seit etwa einem Jahr profitiert die Partei von dem Effekt, dass nichts so erfolgreich macht wie der Erfolg, also der Anziehung, die eine erfolgreiche Partei auf einen Teil der Wählerschaft ausübt.Erfahrene Skilangläufer kennen das. Ist die Loipe einmal gespurt und gut eingefahren, scheint das Vorankommen so mühelos wie der sprichwörtliche Selbstläufer. Die Wahl des Oberbürgermeisters in Pirna lässt befürchten, dass die Loipe für die AfD bei den Wahlen in Ostdeutschland 2024 längst gespurt ist. Und so sieht es danach aus, als sei der Weg der AfD zum Erfolg bei den diversen Kommunal und Landtagswahlen im kommenden Jahr ein Selbstläufer, für deren Erfolgsbahn die AfD nicht mehr viel tun müsse.Ihre Kernwählerschaft in Ostdeutschland ist schon jetzt im höchsten Maß mobilisiert. Denn bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen kämpft die Partei um nichts weniger als um Platz eins. Doch über die Fixierung der öffentlichen Wahrnehmung auf die Umfragehochs der AfD gerät allzu rasch aus dem Blick, dass auch zwischen Nordsachsen und dem südlichen Erzgebirge eine Mehrheit der Wähler der AfD nicht ihre Stimme geben. Es ist daher für die anderen Parteien an der Zeit, sich in der politischen Kommunikation vom Agenda-Setting der AfD abzuwenden, und bewusst eigene Themen mit anderen Inhalten und Begriffen zu besetzen, statt weiterhin den politischen Resonanzraum der AfD zu erweitern.Dafür hat es vermutlich keinen Zweck, die Präsenz der Partei in sozialen Netzwerken überbieten zu wollen. Schon gar nicht kurzfristig. In den kommenden Wahlkämpfen wird es zur Mobilisierung der Wählerschaft abseits der AfD auf das ankommen, was nicht im Internet stattfindet: eine langfristige, verlässliche soziale und politische Beziehungsarbeit vor Ort, die sich auch von Rückschlägen nicht entmutigen lässt. Ideen dafür, wie diese aussehen könnte, lassen sich in Polen studieren. Dort hatte eine Wählergruppe bei den letzten Parlamentswahlen im Oktober einen entscheidenden Anteil am Erfolg des Bündnisses um Donald Tusk über die rechte PiS Regierung, die zugleich die Achillesferse der AfD ist: Frauen. Sie spezifischer zu adressieren, statt dem politischen Pfad der rechten Männerdominanz der AfD zu folgen, könnte ein Baustein sein, die Normalisierung der AfD in Frage zu stellen.