„Jeder schuldet jedem die Anerkennung als Gleicher.“ Könnte ein Satz derzeit mehr bedeuten als dieser im ersten Artikel des Verfassungsentwurfes des Runden Tisches der DDR von April 1990? Heute, zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes? 35 Jahre nach der Friedlichen Revolution in Ostdeutschland. In einem Jahr, in dem die Angriffe auf die Engagierten der Demokratie einen erschreckenden Höhepunkt erreichten.
Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches wurde auch als Gesellschaftsverfassung geschrieben, im Unterschied zum Grundgesetz. Nach den Erfahrungen der NS-Zeit versuchte dieses vor allem die Menschen vor dem Staat zu schützen. Trotz oder gerade durch die Erfahrungen in der DDR beschränkten sich die Autor:innen nicht auf diese Abwehr. Sie gingen darüber h
gen in der DDR beschränkten sich die Autor:innen nicht auf diese Abwehr. Sie gingen darüber hinaus.Damals hatte dies wenig Wirkung. Die Menschen in der DDR wollten das alte System schnell abschaffen. Die CDU wollte kein Referendum mehr. Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble wollten die nächste Wahl gewinnen. Die DDR wollte von der BRD die Einheit, die BRD aber nichts von der DDR – schwierige Voraussetzungen für faire Verhandlungen.Warum spielt der Osten beim 75. Geburtstag des GG kaum eine Rolle?Ist dies nun die richtige Antwort auf die Frage: Warum spielt die Verfassungsfrage und generell „der Osten“ bei der Debatte zum 75-jährigen Bestehen des Grundgesetzes kaum eine Rolle? Ich denke nicht, jetzt über 30 Jahre später. Eventuell ist es bezeichnend, dass ich mir als Ostdeutscher diese Frage selbst erst gar nicht stellte. Ich glaube aber, es gibt zwei simple Antworten darauf.Die erste Antwort, ganz nüchtern betrachtet: Der Osten kommt im Grundgesetz einfach nicht vor. Es gibt kaum einen Bezug, außer in der historischen Entwicklung betrachtet, etwa die Beschränkung des Asylrechtes nach 1990 (sollen wir das feiern?) oder die Artikel zu Europa (gäbe es auch ohne den Osten). Warum also sollte der Osten in der Debatte auftauchen? Umgekehrt muss man dann leider ebenso fragen: Warum sollte sich der Osten hierum kümmern? Die Wiedervereinigung und der Osten schlagen sich im Grundgesetz eben nicht wirklich nieder – leider.Nicht das Grundgesetz hat uns in Ostdeutschland die Freiheit und Demokratie gebracht – das waren die „Ossis“ 1989/90 selbst. Ostdeutschland 1989 war eben nicht Westdeutschland 1949.Die Ostdeutschen werden weggelassen. Heute nennt man das „Framing“Das führt zur zweiten Antwort: Mindestens in den letzten zwanzig Jahren wird scheinbar eine eindimensionale Geschichte Deutschlands phantasiert. Eventuell aus einer gewissen Siegermentalität oder Überheblichkeit heraus erscheint die westdeutsche Geschichte und die BRD als das „Richtige“. Diese eindimensionale Perspektive lässt die ostdeutsche Geschichte als irrelevant oder „falsch“ weitgehend außen vor. Das wird nicht so ausgesprochen, das vermeintlich Falsche wird einfach weggelassen. Nicht nur hieraus entsteht ein Diskurs unter vornehmlich westdeutschem Framing.Das Problem dabei ist jedoch: Es gerät Westdeutschland zum eigenen Schaden. Ein derart gestalteter Diskurs lässt die westdeutsche Geschichte zunehmend unreflektiert zurück – bis in das Heute. Warum darüber nachdenken, wenn doch alles richtig war und ist?Ein solches Denken – bewusst oder unbewusst – verstellt den Blick auf die eigene Geschichte. Das heutige Deutschland erscheint als ein Ist-Zustand ohne jahrzehntelange Vorgeschichte. Wichtige Fehler und Erfahrungen bleiben unbewusst, können nicht mehr helfen, eine bessere Zukunft zu erschaffen.Wie kann Westdeutschland die Gegenwart, geschweige denn die Zukunft, adäquat reflektieren und mitgestalten, wenn es die Komplexität der eigenen Geschichte vergisst? Vieles bleibt verschwommen, wenn man denkt, man habe 1990 irgendwie „gewonnen“.Was können wir Ostdeutschen beitragen?Ein unverstellter Blick ist heute jedoch wichtiger denn je. Das gilt ebenso beim Blick auf Ostdeutschland.Deutschland ist ein Land mit zwei Geschichten. Dies gilt es, zu akzeptieren – ohne etwas als richtig oder falsch zu bewerten. Nur so können wir eine gemeinsame (zukünftige) Geschichte schreiben, eine Geschichte der Demokratie, Freiheit und Solidarität. Wie sollten wir sonst das Beste aus diesen beiden Geschichten für die Zukunft unseres Landes verwirklichen, mit anderen Worten ausgedrückt: ein vereintes Deutschland werden?Was ist diese Geschichte auf ostdeutscher Seite? Fragen wir uns im Osten einmal selbst, was wir für dieses Land getan haben. Was können „wir“ aus unseren Werten und unseren Erfahrungen für die Zukunft von Deutschland und Europa beitragen? Mit der Friedlichen Revolution von 1989/90 verwirklichten die Menschen im Osten nicht nur das Versprechen von Demokratie in der DDR. Sie bezwangen eine Diktatur – und ermöglichten so, dass Deutschland seine Souveränität zurückerhielt.Nichts weniger als dieses Ideal von Demokratie, Freiheit, Solidarität und Gleichberechtigung sowie, nicht zu vergessen, auch der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen – ein wichtiger Antrieb damaliger Bürgerbewegungen – dies ist das Vermächtnis der Friedlichen Revolution von 1989/90 und der Menschen, die damals ihr Leben riskierten. Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches ist quasi dessen textgewordene Manifestation.Wichtig ist, dass wir unserer eigenen Geschichte folgen – der friedlichen RevolutionVielleicht sollten wir uns im Osten dieser uns eigenen Geschichte wieder bewusstwerden, statt falschen Prophet:innen nachzulaufen, die den Frust über eine jahrzehntelange schlechte Regierung in Deutschland instrumentalisieren – nur um unser Land erneut an Diktatoren zu verkaufen.Wenn wir im Osten unter uns diskutieren, einander zuhören – und das dann auch aussprechen. Dann legen wir den Grundstein für das Gespräch zwischen Ost und West auf Augenhöhe. Dabei ist unwichtig, ob dem „Westen“ alles gefällt, was wir im „Osten“ zu sagen haben. Wichtig ist, dass wir dabei unserer eigenen Geschichte folgen – den Idealen der Friedlichen Revolution.1990 blieb die erste Chance ungenutzt, eine gesamtdeutsche Verfassung mit den besten Erfahrungen aus beiden Landesteilen zu erarbeiten. Das Grundgesetz enthält vieles, was wir unbedingt in einer gesamtdeutschen Verfassung brauchen, etwa die Würde des Menschen an die erste Stelle zu setzen. Der Osten mit der Friedlichen Revolution von 1989/90 – Demokratie, Umweltschutz, Freiheit, Solidarität und Gleichberechtigung – ist das passende Pendant hierzu, wie eine lange unbekannte Zwillingsschwester.Der Auftrag eine gesamtdeutsche Verfassung zu schreiben und in einem Referendum abzustimmen, findet sich auch heute noch im Grundgesetz. Vielleicht ist es an der Zeit, die Versprechen des Grundgesetzes und der Friedlichen Revolution einzulösen – und die beiden Geschichten zusammenzuführen.Man kann es kaum hoch genug schätzen, dass wir aus Deutschland den Verfassungen in der ganzen Welt zwei elementare Sätze mitzugeben haben: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ und „Jeder schuldet jedem die Anerkennung als Gleicher.“ Nun sollten wir sie auch für unsere eigene Verfassung niederschreiben.