Dirk Oschmann zu 75 Jahre Grundgesetz: Der Westen feiert sich, der Osten guckt zu
Ost/West Am 23. Mai feiert der Westen sich selbst und seine Verfassung, der Osten bleibt mal wieder außen vor. Denn seit 1990 gilt: Für die Ostdeutschen ist es eine Demokratie zum Zugucken, nicht zum Mitmachen. Mit fatalen Folgen
Not amused über den bundesrepublikanischen Blick auf das Grundgesetz: Dirk Oschmann
Foto: Emmanuele Contini/Imago
Sieht man sich die weihrauchgeschwängerten Lobreden zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes an, bekommt man den Eindruck, dies sei ein heiliger Text, der nicht nur besonders geschätzt wird, sondern der auch nicht angetastet oder gar verändert werden darf. Dabei war das Grundgesetz 1949 ausdrücklich als Provisorium geschaffen worden, mithin als etwas, das lediglich eine Zeit lang dienen sollte, bis man eine dauerhaft gültige Lösung gefunden haben würde.
Überhaupt sind Gesetze nichts Heiliges, sondern bloßes Menschenwerk. Sie werden gemacht, geändert oder ganz verworfen, weil Wirklichkeiten sich ändern oder neu interpretiert werden. Dementsprechend ist auch das Grundgesetz in seiner Geschichte immer wieder geändert worden. Nur einmal, al
ner Geschichte immer wieder geändert worden. Nur einmal, als es wirklich darauf angekommen wäre, ist nichts passiert, nämlich 1990, als die Wiedervereinigung Deutschlands anstand.Eine größere Veränderung der Wirklichkeiten hat es für das Land von 1945 bis heute nicht gegeben; weder die Corona-Pandemie noch die Kriege in der Ukraine oder in Gaza haben ähnlich grundstürzende Wirkung entfaltet. Denn die demokratische Selbstermächtigung der Ostdeutschen, mit der die DDR-Diktatur in die Knie gezwungen und die Mauer zu Fall gebracht wurde, war ja keine lokale Angelegenheit, sondern in ihren Folgen von globalgeschichtlicher Relevanz, weil sie das Ende des Kalten Krieges ermöglichte. Einen gravierenderen Anlass als die anstehende Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten zu einem neuen Land, über das Grundgesetz angesichts solcher einschneidenden Entwicklungen nachzudenken und den neu entstandenen Realitäten Tribut zu zollen, hat es gar nicht geben können: Die politische Situation würde sich verändern, die gesellschaftliche, die positionale und geografische, die demografische, die kulturelle und nicht zuletzt die wirtschaftliche. Rund 62 Millionen Westdeutsche würden künftig zusammen mit rund 17 Millionen Ostdeutschen – mit wahrlich anderen politisch-historischen und kulturellen Erfahrungen – in einem gemeinsamen Staat leben.Habermas hatte schon früh gewarntDas Aushandeln einer neuen Verfassung, wie in Artikel 146 des Grundgesetzes ausdrücklich vorgesehen, kam trotzdem nicht in Frage. Die damaligen Vertreter der Bundesregierung, die hier der Einfachheit und Klarheit halber als „Westen“ markiert werden, hatten weder Einsicht noch Interesse an einer Änderung des Grundgesetzes, trotz einer komplett veränderten weltgeschichtlichen und innerdeutschen Lage. Eine Verfassungsänderung wurde kurzerhand mit den bequemen und leicht durchschaubaren Argumenten abgewürgt, dafür gebe es keine Zeit und sie sei im Übrigen auch nicht nötig.Da halfen selbst die Wortmeldungen des Verfassungspatrioten Jürgen Habermas nichts. Wie viele Westlinke war er zwar kein Freund des Ostens und Skeptiker der Wiedervereinigung. Dennoch hat er, eben als Verfassungspatriot, die Notwendigkeit einer neuen Verfassung herausgestellt und die „fast hysterische Furcht vor einer Verfassungsdiskussion“ scharf kritisiert. Statt einer neuen gemeinsamen Verfassung gab es den Einigungsvertrag, den, wie Habermas es treffend formuliert, „Herr Schäuble in Gestalt des Herrn Krause mit sich selber abgeschlossen hat“, also einen Vertrag, der „als Ersatz dienen mußte für einen Gesellschaftsvertrag, den die Bürger zweier Staaten miteinander hätten aushandeln müssen, um die Bedingungen zu kennen, unter denen man füreinander einstehen will“.Nun haben wir den Salat.Der Westen feiert sich und 75 Jahre Grundgesetz, und der Osten guckt zu. Das ist für die Demokratie ein bedrohlicher Zustand. Öffentlich und staatstragend wird, sofern die Rede überhaupt darauf kommt, gern betont, dass der Osten ebenfalls Grund habe, zu feiern. Aber was genau? Vielleicht feiert er, dass er vom Katzentisch aus zusehen darf? Mehr ist ihm, wenn es ans Eingemachte geht, bekanntlich seit 35 Jahren nicht gestattet. Er soll mitfeiern, hat in der Berliner Republik gesamtgesellschaftlich aber nichts zu sagen, nichts zu entscheiden, nichts zu gestalten.Es hätte einen anderen Weg gegeben: nach dem Wiedervereinigungsartikel 146Dass eine neue gemeinsame Verfassung aus demokratietheoretischen und demokratiepraktischen Gründen zwingend erforderlich ist, um künftige Probleme auszuschließen: Auch das hat Habermas schon Anfang der 1990er Jahre gesehen, wenn er in diesem Zusammenhang „mittelfristig“ vor dem Verfall von „Bürgersinn und politischer Kultur“ und möglichen „sozialen Polarisierungen“ warnt. Die Hellsicht des Philosophen beeindruckt. Denn inzwischen ist präzise eingetreten, was er prognostiziert hat.Doch bei den stets westdeutschen Meinungsmachern und politisch Verantwortlichen fehlt es bis heute, wie aktuelle Äußerungen zum Thema zeigen, an jeder Einsicht in dieses historische Versagen, ob sie nun Heinrich August Winkler, Udo Di Fabio oder Frank-Walter Steinmeier heißen. Der Historiker Winkler hält alle deutschen Revolutionen für gescheitert, also auch die von 1989. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Di Fabio ringt Anfang Mai in einem Interview mit dem Deutschlandfunk zunächst um Worte, als ihn der Journalist fragt, ob 1989/90 nicht die Chance „verpasst“ worden sei, sich eine gemeinsame neue Verfassung zu geben. Offenbar erscheint ihm schon die Frage absurd. Nachdem er die Fassung wiedergewonnen hat, erklärt er trocken, der Beitrittsartikel 23 sei der „Normalweg“ gewesen, der Wiedervereinigungsartikel 146 nur der „Reserveweg“. Und der Bundespräsident hat gleich ein ganzes Buch zur Sache veröffentlicht. Dazu gleich.Ein nichtssagendes Datum wie den 3. Oktober zum „Tag der Deutschen Einheit“ zu machen, war einfach nur richtig blöd. Den Palast der Republik abzureißen und mit dem Berliner Schloss als „Humboldt Forum“ in neokolonialer Manier geschichtsvergessen zu überschreiben, obendrein teilweise finanziert aus politisch dubiosen Geldquellen, war bloß eine zynisch kalte Machtdemonstration, die sich freilich zunehmend als gedächtnispolitische Katastrophe erweist. Aber keine neue gemeinsame Verfassung zu erarbeiten, war vor allem symbolpolitisch ein kapitaler Fehler, der unsere Demokratie auf lange Sicht in ihren Grundfesten spröde und brüchig werden lässt.Steinmeiers gequältes „Wir“Denn die Weigerung des Westens, mit dem neu hinzugekommenen Osten eine neue, gemeinsame Verfassung zu erarbeiten, war die Ursünde, der erste zentrale und zugleich wegweisende Akt dabei, den Osten von der Mitgestaltung dieser Demokratie radikal auszuschließen. Es folgten unzählige weitere in allen gesellschaftlichen Teilbereichen. Aufgrund dieser konstanten, omnipräsenten Ausschlussprozeduren finden sich bis heute fast nirgends Ostdeutsche in Führungspositionen – 35 Jahre nach dem Mauerfall. Hier liegt zugleich ein Grund dafür, dass die in allen westlichen Demokratien gestiegene Demokratieskepsis im Osten höher ist als im Westen. Weil es für ihn in der Regel bloß eine Demokratie zum Zugucken ist und nicht zum angemessenen Mitmachen, Mitentscheiden und Mitgestalten auf höchster Ebene.Dass dieser Zustand eine Bedrohung für unsere Demokratie sein könnte, ist nun sogar dem Bundespräsidenten aufgegangen. Und so hat er ein kleines Buch geschrieben, dessen Titel Wir so manchen Ostdeutschen Schauer über den Rücken jagen wird, weil sie sich an die Zwänge der sozialistischen Kollektivierung erinnern oder vielleicht sogar Jewgeni Samjatins Wir gelesen haben, den 1920 publizierten Grundtext der Dystopien im 20. Jahrhundert.Was jahrzehntelang systemisch und systematisch aus Gründen des Machterhalts und des „rüden Wohlstands-Chauvinismus“ (Habermas) verhindert wurde, soll nun in aller Eile nachgeholt werden, nämlich Ostdeutsche wirklich mitbestimmen zu lassen. Das kommt freilich in ebenso verquälter wie verräterischer Rhetorik daher: „Aber es ist doch richtig: Wir brauchen mehr Ostdeutsche in Führungsstellen. Da haben wir vieles aufzuholen, und zwar so schnell wie möglich.“ Wieso eigentlich „Aber“? In diesem „Aber“ sitzt mit dem Vorbehalt gut sichtbar zugleich das Vorurteil und letztlich das Signal, dass sich nichts ändern wird, weil der politische Wille fehlt, auch 35 Jahre nach dem Fall der Mauer. – „Wir?“ Mitnichten.Ich sende meine Glückwünsche zu den Feierlichkeiten.
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