75 Jahre Grundgesetz: „Eine konstitutionell verdichtete Niederlage“
Interview Der Historiker Florian Weis diskutiert mit Autor Ingar Solty darüber, wie progressiv das 1949 in Kraft getretene Grundgesetz war – und heute noch ist. Und sie widmen sich einer wichtigen Frage: Kann es uns gegen die AfD helfen?
Am 1. Juli 1948, übergaben die Militärgouverneure der Besatzungszonen der westlichen Alliierten USA, Großbritannien und Frankreich den Ministerpräsidenten von Bayern, Hessen, Württemberg-Baden Schleswig-Holstein,Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Württemberg-Hohenzollern, Baden und Nordrhein-Westfalen und den Bürgermeister der Hansestädte Hamburg und Bremen die sogenannten „Frankfurter Dokumente“. Darin enthalten: der Auftrag, eine Verfassung auszuarbeiten.
Die Ministerpräsidenten und Bürgermeister beschlossen, eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen, den „Parlamentarischen Rat“, der am 1. September seine Arbeit aufnahm: 65 Delegierte, 61 Männer und vier Frauen, dazu fünf nicht stimmberechtigte Delegier
e Delegierte aus West-Berlin, kamen in Bonn in der Pädagogischen Akademie zusammen, wählten Konrad Adenauer (CDU) zum Vorsitzenden und erarbeiteten bis zum 8. Mai 1949 das Grundgesetz der BRD, das am 23. Mai 1949 im Kraft trat.Was war das für ein Dokument? Ingar Solty, Referent für Friedens-, Außen- und Sicherheitspolitik bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS), und Florian Weis, Historiker und Referent der RLS für Antisemitismus, diskutieren, welche politischen Kräfteverhältnisse die Ausgestaltung der Verfassung bestimmten und wie sich das bis heute auswirkt., welche politischen Kräfteverhältnisse die Ausgestaltung des Grundgesetzes bestimmten, und wie sich das bis heute auswirkt.Florian Weis (FW): Ingar, lass uns zu Beginn einmal zurückgehen in der Zeit: Was war das für ein historischer Moment, aus dem das Grundgesetz entstand? Und für wie progressiv hältst du es?Ingar Solty (IS): Das Grundgesetz ist ganz grundsätzlich eine Schlussfolgerung aus Faschismus und Weltkrieg. Es entstand in Reaktion darauf und auch in Reaktion auf die Wiederauferstehung der Linken. Damals gab es in allen Besatzungszonen Masseneintritte in Gewerkschaften, die Sozialdemokratie, die Kommunistische Partei. Die speisten sich wesentlich aus dem Wissen, dass der Kapitalismus für die Weltwirtschaftskrise, die Weltwirtschaftskrise für den Faschismus und der Faschismus für den Weltkrieg verantwortlich war. Und das drückt sich auch in dieser Verfassung aus: Sie beinhaltet sehr fortschrittliche Aspekte inklusive einen verfassungsgemäßen Weg zum Sozialismus, das heißt, die Frage der zukünftigen Wirtschaftsordnung bleibt offen. In Bezug darauf ist das Grundgesetz deutlich progressiver als das, was nach 1990 wahrscheinlich in einer gesamtdeutschen Verfassung gestanden hätte. Dort wäre die Eigentumsfrage wohl nicht so offen formuliert worden. Aber trotz alledem ist die Verfassung selbst auch schon eine konstitutionell verdichtete Niederlage, angesichts dessen, was als Alternativen nach 1945 möglich war.FW: Bevor wir darauf eingehen, würde ich kurz noch die Rolle der West-Alliierten für das Grundgesetz würdigen, insbesondere der Briten und Amerikaner. Positionen, die sie in ihren eigenen Ländern nie (USA) oder nur in Teilen (Großbritannien) durchsetzen, werden mit ihrer Zustimmung in das Grundgesetz aufgenommen: die Abschaffung der Todesstrafe zum Beispiel, oder die Sozialisierungsbestimmungen, auf die sich heute Deutsche Wohnen & Co Enteignen beziehen. Auch das in den USA unvorstellbar, anders als in Großbritannien und Frankreich, wo es in den 1940er Jahren Konsens ist, dass der unregulierte Kapitalismus in die Weltwirtschaftskrise führte und in der Folge Leid und Instabilität nach sich zog (USA und Großbritannien) oder gleich in Faschismus und Krieg mündete (Deutschland und Italien). Inwiefern meinst Du, dass das Grundgesetz schon Dokument einer Niederlage ist?IS: Der Ausgangspunkt ist 1945, das Ende des Zweiten Weltkriegs. Geschichtlich gibt es einen engen Zusammenhang zwischen Krieg und Revolution, europäisch betrachtet ist das eigentlich ein revolutionärer Moment, ähnlich der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Mir scheint, dass nach 1945 mehr möglich gewesen wäre – nach der Befreiung Osteuropas durch die Rote Armee, dem Sieg einer linken Labour-Regierung in Großbritannien und der wichtigen Rolle der Kommunisten im Widerstand in Italien, Frankreich, auf dem Balkan und anderswo. Da fällt das Grundgesetz natürlich stark hinter den geweckten Hoffnungen zurück. Und im Rückblick sehen wir, dass trotz das Grundgesetz, trotz seiner Offenheit für eine sozialistische Gemeinwirtschaft, dennoch auch kompatibel war mit dem Neoliberalismus. Genau wie es auch mit der zunehmenden Auslandseinsatzorientierung der Bundeswehr und der neoimperialistischen Politik Deutschlands innerhalb Europas wie auch – zunehmend – über Europa hinaus offenbar kompatibel ist. Es lohnt deshalb mit Daniela Dahn daran zu erinnern, dass die Forderungen der SPD nach dem Weltkrieg – Enteignung der mit dem Nazifaschismus verstrickten Großindustrie, Enteignung der Junker und Bodenreform usw. – eben nicht in der amerikanischen, französischen und britischen Besatzungszone verwirklicht wurden, sondern in der sowjetischen.FW: Nun können wir streiten: Liegt es daran, dass der Moment 1945/46 nicht radikal genug genutzt wurde? Oder neigen wir dazu, die Tiefe und Breite des linken Aktivismus zu überschätzen? Das passiert uns ja auch heute immer wieder. Wenn wir Kurt Schumacher betrachten: Wirtschaftspolitisch erscheint er von heute aus betrachtet als ein linker Sozialdemokrat, gleichzeitig ist er ein ziemlicher Nationalist.IS: Die KPD hatte ein nationaleres, weniger radikales Programm als die SPD ...FW: … ja, genau. Und dann gibt es die verbreitete Auffassung, die auf die katholische Soziallehre zurückgreift: Der Kapitalismus ist aus dem Ruder gelaufen, muss reguliert werden. Eigentum ja, aber Eigentum muss eine Bindung haben: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ (Artikel 14) Müssten wir da nicht sagen: Die Praxis seit den 1990er Jahren war eigentlich ein Verfassungsbruch gegen den Artikel 14?IS: Die geschichtlichen Alternativen, das historisch Versäumte und Unabgegoltene in der Geschichte treiben mich heute deshalb so um, weil wir uns vermutlich hinbewegen zu einem Land mit Kapitalismus, aber ohne Linke. Und mit einem Kapitalismus, der, weil er sich in einer tiefen Krise befindet, mit der Rückkehr faschistischer Kräfte und dazu erheblicher Kriegsgefahr einhergeht. Wenn man den langen Bogen spannt, stehen wir, bei allen Brüchen, die es gegeben hat, heute wieder vor vielen Fragen, die sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg stellten: Die Frage von kapitalistischer Ungleichheit, die Frage von Entdemokratisierung und die Frage von Faschismus und Krieg. Wenn wir sagen, das Ziel der Verfassung war es, den Wiederaufstieg des Faschismus zu verhindern, dann liegt offensichtlich irgendetwas in der Verfassung im Argen, oder in dem Deutschland, das danach entstand.FW: Ich würde insofern widersprechen, als ich es für wichtig halte, eine im besten Sinne liberale Verfassung zu haben, die gleichzeitig keine wirtschaftsliberale Verfassung ist. Sie hat den Neoliberalismus nicht verhindert, vollkommen richtig, aber ich glaube, eine Verfassung kann das auch nicht. Sie kann Mindeststandards setzen, menschenrechtliche und prozedurale Standards setze. Davon gibt es ja durchaus bemerkenswerte im Grundgesetz, auch wenn die Verfassungsrealität oft eine andere ist. Etwa der Einstieg des Artikel 1 mit „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Ein ungewöhnlicher Verfassungseinstieg, tief geprägt von den Verbrechen der Nazis. Dieser Gedanke eint Menschen aus unterschiedlichen Spektren, konservativ-religiösen, liberalen, linken, er ist im besten Sinne liberal menschenrechtlich, was ich vor dem Hintergrund der Naziverbrechen und dem Aufstieg der AfD heute ungeheuer wichtig finde. Das ist in meinen Augen auch eine starke argumentative – und nicht nur argumentative – Waffe gegen die AfD.IS: Das ist sicherlich richtig. Leider löst sich dieser politisch-liberale Konsens zusehends auf. Das politische Zentrum kennzeichnet heute ein liberaler Autoritarismus. Das liberale Establishment betreibt mit der inneren Zeitenwende im Kern das Geschäft der AfD, lange bevor sie an der Macht beteiligt ist.FW: Mir scheint, dass die Linke nicht alles über Rechtskodifizierung zu lösen versuchen sollten. Es wird mir zuweilen etwas zu sehr über „Diskurse“ sowie über Forderungen nach Verrechtlichung agiert. Da wäre das Arbeitsrecht vielleicht ein lehrreicher Anhaltspunkt, gestützt auf den Artikel 9, die Koalitionsfreiheit. Das Arbeitsrecht entwickelt sich über Tarifverträge, also über soziale Kämpfe in einem eingehegten Rahmen. Es geht um Auseinandersetzung, Konflikt, Verhandlung, Kompromiss. Viele sozialrechtliche Fortschritte sind so erkämpft worden, sei es die Lohnfortzahlung für Arbeiter:innen 1956/57 wesentlich durch den IG Metall-Streik in Schleswig-Holstein oder die Abschaffung frauendiskriminierender Leichtlohngruppen als Folge auch des Streiks bei Pierburg in Neuss 1973. Die gesetzlichen Regelungen folgten den tarifvertraglichen erst Jahre später. Das erscheint mir ein gutes Beispiel zu sein: Auf einer Verfassung mit Tarifautonomie und Koalitionsfreiheit aufzubauen, konkrete soziale Auseinandersetzungen zu führen, an deren Ende eine allgemeingültige gesetzliche Festschreibung stehen kann. Heute habe ich gelegentlich den Eindruck, dass progressive Akteur:innen zu stark über medial-moralischen Druck versuchen, rechtliche Festsetzungen herzustellen, aber ohne ausreichende soziale Verankerung und damit ohne wirkliche Umsetzungskraft. Aber lass mich zum Schluss noch einen letzten Punkt ansprechen: 1986 hat Jürgen Habermas mit dem Begriff des „Verfassungspatriotismus“ experimentiert. Ich verstehe das als einen Versuch, das Grundgesetz und seine Weiterentwicklung könnten einen verbindenden Bezug für die Gesellschaft herstellen, der nicht völkisch, nicht nationalistisch ist. Taugt der Gedanke für heute wieder?IS: Also ich bin da grundsätzlich skeptisch, weil das als eine Anrufung von oben nicht funktionieren kann. Und vor allem natürlich in Kontrast steht zur Verfassungswirklichkeit. Selbst wenn man in Zeiten der Bedrohung liberaldemokratischer Verfahren in Situationen geraten wird, in denen man die Verfassung auch gegen ihre Feinde verteidigt.
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