Das bekannteste Bauwerk von Chemnitz wird seit seiner Errichtung 1971 im sächsischen Volksmund meist nur „Nischel“ genannt, für Kopf oder Schädel. Der mit Sockel über 13 Meter hohe Brocken, geschaffen von dem sowjetischen Bildhauer Lew Kerbel, gilt als zweitgrößte Porträtbüste der Welt. Er sollte dem 1953 in Karl-Marx-Stadt umbenannten Chemnitz im Stadtzentrum buchstäblich ein neues Gesicht geben und wurde wie geplant zur Kulisse für die damals üblichen Kundgebungen und Großdemonstrationen. Als 1990 Karl-Marx-Stadt wieder Chemnitz wurde, blieb der „Nischel“ trotz heftiger Diskussionen um die von vielen eher bespöttelte Skulptur. Städtebaulich hatte sie da schon rund zwei Jahrzehnte lang ihren Platz behauptet.
Um diesen Platz, und nicht um eine weitere Monumentalisierung von Marx, scheint es Olaf Nicolai mit seinem 24-Stunden-Film in einer einzigen Einstellung in erster Linie zu gehen. Gedreht wurde er exakt ein Jahr vor seiner Uraufführung am 21. September, dem Äquinoktium, der Tag- und Nachtgleiche, da unter der schon tiefer ziehenden Herbstsonne die wuchtigen Furchen und Kanten der Büste ein besonderes Spiel von Licht und Schatten zeigen und so im Verlauf die stilisierten Gesichtszüge des Philosophen zu bewegen scheinen. Entscheidend ist dabei die Tonspur: das, was man drum herum hört, zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten.
Chemnitzer kommen nicht hierher
Natürlich kommen Touristen aus verschiedenen Ländern und vom benachbarten Rathaus ist das stündliche Geläut zu hören. In den Abendstunden wird der Platz zum Treffpunkt verschiedener sozialer Gruppierungen, mehrheitlich solcher, für die der Platz ursprünglich eben nicht geschaffen wurde und die ihn sich jetzt nehmen. Es ist ein akustischer Spiegel der Gesellschaft unterm dunkel dämmernden Marx. Der durchschnittliche Chemnitzer kommt, wie man sich leicht vorstellen kann, nicht hierher, sagt der Künstler, der selbst in Karl-Marx-Stadt aufwuchs.
1964 drehte Andy Warhol acht Stunden lang das Empire State Building, damals das höchste Gebäude der Welt. Der Stummfilm Empire zeigt in der einen Kameraeinstellung auf das Gebäude nichts anderes als das Verstreichen der Zeit, ab und zu fliegt ein Flugzeug vorbei oder geht Licht in einem Fenster an. Man kann diesen Film als Referenz für Nicolai sehen und wird dann in den Unterschieden – nicht nur der Tonspur! – die Eigenarten dieses Werks noch besser entdecken können, mit den Stimmen und Geräuschen eines urbanen Schnittpunkts. Dieses dokumentarische Abhören eines besonderen Ortes in der künftigen Kulturhauptstadt Chemnitz ist die mit etwas Geduld zu entschlüsselnde soziale Ebene.
Die eigentliche Dimension von Nicolais MARX entfaltet sich über seine Aufführung am selben Tag ab 12 Uhr mittags zu jeweiliger Ortszeit in insgesamt 16 Städten in verschiedenen, zwei Drittel der Welt umspannenden Zeitzonen, vom chinesischen Guangzhou bis Los Angeles. Freilich auch mit der Frage, was ein Karl-Marx-Kopf am jeweiligen Ort bedeutet. In Deutschland sind die Kunstsammlung Chemnitz, das Haus der Kulturen der Welt in Berlin und das Haus der Kunst München als Uraufführungsorte beteiligt. Am Ende des Films steht ein Zitat der dänischen Dichterin Inger Christensen, gleichsam als Motto rückwärts: „Keiner weiß, trotz allem, ob das Weltall rückwärts zählt, während wir getreulich vorwärts zählen.“ Es ist eine Frage der Zeit.
Info
Das 24-Stunden-Screening von MARX läuft ist vom 21. bis zum 22. September in 16 Städten zu sehen. In Deutschland sind das Haus der Kulturen der Welt in Berlin, das Haus der Kunst in München und die Kunstsammlungen Chemnitz beteiligt.
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