Gemeint sind nicht die hohen Temperaturen mit subtropischer Luftfeuchtigkeit, sondern die heißen Diskussionen. Auf dem Lido lässt sich nämlich gerade sehr schön beobachten, was für eine wichtige Rolle so ein Filmfestival für die Diskussionskultur spielt.
Thema Nummer eins, mehr im chronologischen Sinn als in dem der Wichtigkeit, war Roman Polanski. Der wurde von Festivalchef Alberto Barbera mit J’accuse in den Wettbewerb eingeladen, und das, obwohl der Regisseur im Zuge von #MeToo für seine Vergewaltigung einer Minderjährigen im Jahr 1977 in weiten Filmkreisen zur Persona non grata erklärt worden ist. Die Academy, die ihn 2003 noch für den Pianisten ausgezeichnet hatte, schmiss ihn im vergangenen Jahr raus. Purer Zündstoff also, Polanski in Venedig zu begrüßen. Da Italien mit den USA ein Auslieferungsabkommen hat, reiste er selbst jedoch nicht an, gab aber im Pressekit zum Film ein Interview, in dem er sich mit seinem Protagonisten auf eine Stufe stellte: eine deutliche Provokation, denn in J’accuse rollt der Regisseur die Geschehnisse um den unschuldig verurteilten Offizier Alfred Dreyfus auf.
Darf man so jemanden einladen? Und weiter: Kann und darf man Kunst von seinem Urheber getrennt betrachten? Diese Fragen waren in Bezug auf J’accuse umso schwieriger zu beantworten, als der klassische, dicht inszenierte Spionagethriller sowohl beim Publikum als auch beim Großteil der Kritik in Venedig nun sehr gut ankam.
Thema Nummer zwei: die immer noch unterirdische Frauenquote im Hauptwettbewerb. Gerade einmal zwei der 21 konkurrierenden Filme sind von Frauen: Regisseurin Haifaa Al Mansour erzählt in The Perfect Candidate die Geschichte einer saudischen Ärztin, die bei der Kommunalwahl antritt, und Debütantin Shannon Murphy in Babyteeth von einer schwer kranken Teenagerin, die sich in einen Drogendealer verliebt. Paritätische Verhältnisse sehen jedenfalls anders aus. Dass der scheidende Direktor Barbera – sein Vertrag geht bis 2020 – dazu erklärte, es seien doch wenigstens viele Filme über Frauen vertreten, kann nur als kleinlaute Ausrede gelesen werden.
Und dann flammte noch erneut jenes Thema auf, für das Venedig eine Vorreiterrolle einnimmt: die Netflix-Frage. Während Cannes sich gesperrt und Berlin sich dieses Jahr geöffnet hat, liefen auf dem Lido wieder die Produktionen des Streaminganbieters mit Oscar-Ambitionen. In diesem Jahr waren es gleich drei: Außer Konkurrenz lief David Michôds von Shakespeare inspirierter Historienschinken The King, im Wettbewerb Steven Soderberghs Panama-Papers-Klamauk The Laundromat und Noah Baumbachs großartige Tragikomödie A Marriage Story.
Die Skeptiker betrachten Streaming als den Anfang vom Ende des Kinos, die andere Seite hält Netflix und Co. für eine vielleicht auch produktive Gefährdung, bei der sich das Kino, wie schon bei Video und DVD, neuen Distributionswegen stellen und sich selbst reflektieren muss. In den Pressevorführungen zu A Marriage Story auf dem Lido jedenfalls kulminierten diese Fronten sehr anschaulich zu einer kritischen Masse: Während bei der einen Vorführung tosend geklatscht wurde, als das Netflixlogo über die Leinwand flimmerte, wurde in der anderen gebuht.
Selten erlebt man so unmittelbar Emotionen im Kinosaal wie auf einem Festival! Die müssen jetzt natürlich in einen konstruktiven Diskurs kanalisiert werden.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.