Der große Unterschied

Feminismus Sieben Frauen von verschiedenen Kontinenten erklären, warum Feminismus kein westliches Projekt ist
Ausgabe 21/2016

„Als Junge konnte ich freier leben“

Faheema Eissar, 26, arbeitet für ein Projekt der Vereinten Nationen in Kabul

Das Leben hier ist für Frauen sehr gefährlich und oft erniedrigend. Viele haben sich daran gewöhnt – ich nicht. Ich habe mich entschieden, hier zu leben und dafür zu kämpfen, dass Frauen ihre eigenen Entscheidungen treffen können. Schon dass ich hier bin und ein anderes Bild zeige als die Frauen, die von Kopf bis Fuß in einer blauen Burka stecken, macht einen Unterschied. Je mehr wir andere Bilder sehen, umso normaler werden sie sein.

Ich arbeite, ich habe mein eigenes Einkommen und ich fahre ein Auto in Kabul – etwas, was Frauen in Afghanistan normalerweise nicht machen. Es irritiert die Leute sehr, wenn sie mich Auto fahren sehen. Wir haben nicht genug Vorbilder an starken, unabhängigen Frauen und ich hoffe, ich kann junge Mädchen und deren Mütter inspirieren. Deshalb unterrichte auch ehrenamtlich eine Mädchenklasse an einer Oberschule. Ich möchte ihnen zeigen, dass man als Frau seine eigene Stimme haben kann und Entscheidungen treffen kann, ohne den Druck der Familie – wen man heiratet etwa, oder ob man Kinder möchte.

Ich glaube mein Vater hat sich immer gewünscht, dass ich als Junge geboren wäre. Als ich elf Jahre alt war, schnitt ich mir meine Haare kurz, zog mir andere Kleidung an und entschied, als Junge zu leben. Das ist ein Phänomen, was in Afghanistan bacha posh genannt wird. Meistens entscheiden die Eltern das für ihre Töchter im jungen Kindesalter, wenn sie keine Söhne haben. Wenn die bacha posh in die Pubertät kommen, müssen sie wieder zu Mädchen werden, weil sie ihre Haare bedecken müssen und heiraten sollen.

Bei uns war das anders. Ich habe drei jüngere Brüder und entschied selbst, als Junge zu leben. Meine Eltern haben das akzeptiert. So konnte ich mich alleine auf den Straßen bewegen, auch ohne männliche Begleitung. Als Mädchen musste ich zu Hause arbeiten und Teppiche knüpfen, als Junge war ich endlich frei. Jungen schienen mir viel cooler und sie waren in der Gesellschaft viel akzeptierter – das wollte ich auch für mich.

Aber mit rund zwanzig Jahren wurde es zu schwierig, eine andere Identität zu leben. Die Leute dachten ich wäre schwul oder transgender und machten sich über mich lustig. Sie akzeptierten mich nicht als Mann, aber auch nicht als Frau. Also dachte ich, dass ich stärker sein kann, wenn ich akzeptiere wer ich bin und andere mich dafür respektieren können.

Ich glaube mein Vater sieht mich insgeheim immer noch als Mann. Das ist komisch für mich, weil ich mich als Frau fühle und sehr genau die Restriktionen spüre, unter denen ich in Afghanistan lebe. Aber ich weiß, wie ich diese Regeln ausdehnen kann. Meine Freunde beschweren sich noch heute über mich, ich sei zu rechthaberisch, ich rede zu laut oder ich sei kompetitiv. Alles Eigenschaften, die in unserer Kultur Männern zugeschrieben werden. Meine Kollegen nennen mich manchmal scherzhaft Mister Faheema. Mir ist es egal, wie sie mich bezeichnen – solange sie zuhören, was ich zu sagen habe.

Dieser Text ist Teil des aktuellen Wochenthemas. Lesen Sie dazu auch den Beitrag Interessiert euch! Wie lassen sich Rassismus und Sexismus zusammen bekämpfen?

„Alle sollten sich als Teil eines Ganzen sehen“

Suneeta Dhar, 60, Leiterin der Nichtregierungsorganisation Jagori in Neu-Delhi

Ich finde es großartig, eine Frau in Indien zu sein und freue mich jeden Tag darüber. Und das, obwohl Frauen in Indien in vielerlei Hinsicht stark benachteiligt werden: Sie haben schlechteren Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Arbeitsplätzen. Außerdem dürfen Frauen häufig nicht selbst entscheiden, wie sie leben wollen.

Hinzu kommt, dass sexualisierte Gewalt immer noch zum Alltag gehört. Mit meiner Arbeit für die Nichtregierungsorganisation Jagori möchte ich dafür sorgen, dass sich das ändert. Dabei versuche ich, nicht nur auf die Politik einzuwirken, sondern auch auf Familien, weil dort nach wie vor diskriminierendes Verhalten gegenüber Frauen an der Tagesordnung ist und toleriert wird. Und das, obwohl das meiste inzwischen gegen die indische Verfassung verstößt, wie beispielsweise die Mitgift oder das Abtreiben von weiblichen Föten.

Zum Glück gibt es inzwischen immer mehr Frauen, die ihre Stimme erheben, ihre Rechte nutzen und selbst Entscheidungen treffen. Damit es in Zukunft noch mehr werden, leiste ich viel Beratungs- und Bildungsarbeit, die alle Geschlechter aufklärt und Werte wie Gleichberechtigung und Respekt vermittelt. Das ist meines Erachtens essenziell für den Feminismus, der nicht gegen Männer gerichtet ist. Es geht nicht darum, das Patriarchat durch das Matriarchat zu ersetzen. Feminismus bedeutet für mich, eine bessere Welt für alle Geschlechter zu schaffen. Es ist ein Weg, der von Liebe und Fürsorge ausgeht – und bei dem alle versuchen, sich bescheiden als Teil eines Ganzen zu sehen. Deswegen bin ich dankbar, als eine Frau, die etwas bewirken möchte und kann, in meiner Heimat Indien leben zu dürfen.

„Ich wehre mich gegen verniedlichende Sprache“

Saka Matsushita, 31, Künstlerin in Tokio

Ich habe als Jugendliche mit meiner Familie in Kanada gelebt. Zurück in Japan musste ich nur meinen Mund aufmachen, und die Leute wussten sofort: Die ist im Ausland aufgewachsen. Es gibt im Japanischen eine feminine und eine maskuline Sprache. Wenn du nicht die onna kotoba, also die Frauenwörter benutzt, dann gilt das als vulgär. Auch meine Eltern haben mich so erzogen, aber ich habe für mich einen Weg gefunden, höflich zu sein, ohne diese sehr feminine und verniedlichende Sprache zu gebrauchen.

In Japan gibt es diese sehr konservative Vorstellung, dass alles im Leben der Frau darauf abzielt, einen Mann zu finden. Das gilt als die Definition von Glück. Mädchen bekommen ein sehr traditionelles Geschlechterverständnis vorgelebt: in der Familie, aber auch in der Schule und in den Medien. Erst kürzlich ist ein Magazin erschienen namens CanCam, dessen erste Ausgabe ein Maßband beinhaltete. Auf dem war „als Orientierung“ der Taillenumfang der abgebildeten Models eingezeichnet. Dieses Magazin wird in Tokio in jeder Metro beworben. Es geht nur darum, die perfekte Partnerin zu sein – mit perfekten Manieren und perfektem Körper.

Das eigentlich Tragische ist, dass es kaum Frauen im öffentlichen Leben gibt, die dem etwas entgegensetzen. Mir fallen nur die Journalistin Yoko Tajima und die Künstlerin Megumi Igarashi ein. Igarashi hatte im Zuge einer Crowdfunding-Kampagne für einen Kajak in Vaginaform die 3-D-Daten des Boots an ihre Unterstützer versendet. Dafür wurde sie verhaftet und zu einer Geldstrafe verurteilt. Die Anklage lautete: Verbreitung von obszönen Material. Durch den Skandal wurde das Thema Feminismus auf die öffentliche Agenda gesetzt. Es gab Ansätze einer Debatte – und die braucht es in Japan viel stärker.

„Wir müssen den einfachen Frauen zuhören“

Marcia Santacruz Palacios, 39, Psychologin und Menschenrechtsaktivistin in Kolumbien

Die erste Feministin in meinem Leben war meine Großmutter. Auch wenn sie sich wohl nie so bezeichnet hätte. Mein Großvater war gewalttätig, irgendwann war er weg. Meine Großmutter hat dann einen kleinen Essensstand aufgemacht, ihre acht Kinder allein durchgebracht und ihnen allen eine ordentliche Schulbildung verschafft. Uns Enkel hat sie auch noch mit aufgezogen, wir konnten sogar studieren. Sie war eine richtige Matriarchin.

Meine Großmutter hat mir immer das Gefühl gegeben, dass es ein Riesenglück ist, als Frau geboren zu sein – als schwarze Frau. Das hat mich sehr geprägt. Die schwarze Bevölkerung ist in Kolumbien stark diskriminiert. Aber meine Großmutter und meine Mutter waren stolz darauf, schwarz zu sein. Ich bin das auch.

Während meines Studiums habe ich mich dann intensiver mit Feminismus beschäftigt. Da wurde mir gesagt, ich solle „professionell“ schreiben. Das hieß, wie eine weiße akademische Feministin aus der Großstadt zu schreiben. Ich beherrsche das, aber es ist nicht meine Sprache. Als Psychologin habe ich viel mit Frauen gearbeitet, die durch den Krieg alles verloren haben. Einfache Frauen vom Land, die meisten können nicht lesen. Sie geben ihr Wissen mündlich weiter, durch Geschichten und Lieder. Dieses Wissen speist sich aus Jahrhunderten der Erfahrung von Kolonialismus und Sklaverei. Vieles, was diese Frauen tun, ist sehr politisch, sehr feministisch. Es waren oft Frauen, die sich gegen bewaffnete Gruppen in ihren Dörfern gewehrt haben. Jetzt, da es nach mehr als 60 Jahren Krieg Friedensverhandlungen gibt, brauchen wir den Feminismus mehr denn je. Einen Feminismus, der die Erfahrungen der einfachen Frauen einbezieht.

„Zumindest ist es nicht so schlimm wie in Ägypten“

Hasna Petidieu, 24, Grafikdesignerin in Fès

Sexistische Übergriffe sind in Marokko alltäglich. Ich werde jeden Tag, wenn ich zur Uni gehe, von Männern angequatscht, ob ich Sex wolle. Manchmal werden sie auch übergriffig, bedrängen mich oder halten mich fest. Und das, obwohl es mein altes Wohnviertel ist, durch das ich laufe – und die meisten mich dort kennen. Ich versuche dann, die Männer zu ignorieren, meistens laufe ich mit Kopfhörern durch die Gegend und versuche selbstbewusst auszusehen.

Es gibt nur eine kleine feministische Bewegung in Marokko. Sie kämpfen etwa gegen das Gesetz, dass Sex außerhalb der Ehe strafbar ist. Einmal rief ich einen Polizisten um Hilfe, als mich ein Mann vor einer Bar bedrängte. Der Polizist musterte mich und sagte, ich wäre wohl betrunken. Er ließ den Mann gehen. Ich sagte dann dem Beamten, er solle sich verpissen.

Die Einschränkungen im Alltag spüre ich jeden Tag. Ich fahre nicht mit dem Bus, denn dort passieren solche Übergriffe besonders häufig. Ich versuche einigermaßen den Dresscode in Marokko zu befolgen, ich trage keine Miniröcke, vor allem nicht, wenn ich abends ausgehe. Wenn ich Tampons kaufen möchte, muss ich meinen Freund in den Supermarkt mitnehmen. Jungfräulichkeit ist in Marokko ein großes Thema, und wer Tampons verwendet, gilt als Prostituierte. Wenn ich Alkohol kaufen gehe, trage ich einen Sonnenbrille um nicht erkannt zu werden, weil Trinken bei Frauen noch weniger akzeptiert ist als bei Männern. Und rauchen tue ich nur in Cafés, in denen mich niemand kennt, oder wenn ich zu Besuch in liberaleren Städten wie Casablanca oder Rabat bin. Inzwischen versuche ich mich nicht von diesen Einschränkungen zu sehr leiten zu lassen und trotzdem mein Leben zu leben. Und zumindest ist es bei uns nicht so schlimm wie in Ägypten. Aber es ärgert mich, dass ich nicht ich selbst sein kann.

„Wir haben alle schon ähnliche Situationen erlebt“

Ana Paula Lisboa, 28 Jahre, Schriftstellerin und Aktivistin in Rio de Janeiro

Im heutigen Brasilien ist der Feminismus ist eine große soziale Bewegung aus dem linken Spektrum, die sehr zersplittert ist. Es gibt unterschiedliche Arten des Feminismus: Den Feminismus schwarzer Frauen, den Feminismus aus ländlichen Gebiete oder in der Stadt. Wir sprechen von verschiedenen Orten aus, aber wir kämpfen alle noch immer dafür, die gleichen Rechte wie die Männer zu haben: Kurze Kleidung tragen zu können, ohne belästigt zu werden.

Seit letztem Jahr haben verschiedene Aktionen im Internet unterschiedliche Frauen zusammengebracht, wie zum Beispiel #primeiroassedio (erste Belästigung). Unter dem Hashtag erzählen Frauen von dem ersten Mal, als sie belästigt wurden. Kampagnen wie diese haben uns geholfen, eine gemeinsame Stimme zu finden. Wir haben gemerkt, dass wir alle schon ähnliche Situationen erlebt haben.

Ich sehe mich als Teil des Feminismus der schwarzen Frauen und möchte mehr Frauen aus armen Verhältnissen in die Bewegung einbinden. In der favela, in der ich wohne, dreht sich der feministische Kampf um Dinge des Alltags, es geht nicht so diskursiv zu. Die Frauen müssen täglich dafür kämpfen, respektiert zu werden. Trotzdem war es für mich wichtig, dass ich viel gelesen und über die feministische Geschichte gelernt habe. Ich habe aber auch die feministische Haltung im Leben meiner Urgroßmutter erkannt, die mit 7 Jahren schon als Haushälterin arbeiten musste und 9 Kinder aufgezogen hat.

„Ich habe mich selbst und meinen Beruf verleugnet“

Maki Taniguchi, 42, Theaterdirektorin in Tokio

Vor zwei Jahren habe ich mir Folgendes eingestanden, „Anscheinend finde ich meinen Mr. Right nicht alleine, warum probiere ich es also nicht mal mit einer professionellen Heiratsvermittlung.“ Ich bin also hingegangen. Die Frau von der Heiratsvermittlung sagte mir, ohne ihr Lächeln dabei zu verlieren, „Warum sind sie denn nicht schon früher gekommen, vor ihrem 40. Geburtstag?“. Sie erklärte mir weiter, dass die Mehrheit der japanischen Männer nun mal jüngere Frauen als Angetraute bevorzugen. Dann bat sie mich, eine Kopie meines Universitätszeugnisses hinzuzulegen. Allerdings hatte ich mein Promotionszeugnis nicht bei mir, woraufhin mir die Frau versicherte, „Oh, das ist kein Problem. Ich denke es ist sowieso besser, dass Sie als Frau ihre Promotion erst gar nicht erwähnen.“

Drei Monate habe ich die Vermittlung in Anspruch genommen, mir wurden fünf bis sechs Männer vorgestellt. Ich habe auf den Rat der Frau gehört und meinen akademischen Abschluss nicht erwähnt. Ich habe auch nicht erwähnt, dass ich in den USA aufs College gegangen bin und Englisch spreche oder, dass ich an verschiedenen Orten auf der Welt studiert und gelebt habe. Ach so, und ich habe auch nicht erwähnt, dass ich Direktorin an einem Theater bin. Wer war ich also für diese Männer? Ich weiß es nicht. Aus keiner der Begegnungen ist etwas geworden. Das war auch meine Schuld. Ich habe mich selbst und meinen Beruf verleugnet – nur um einen Mann kennenzulernen. Ich realisierte wie dumm das war und kündigte. Zwei Monate später habe ich dann meinen Mann getroffen – ohne ihre Hilfe.

Es gibt im japanischen Alltag kaum offenen Sexismus. Der Sexismus hier ist unterschwelliger, so wie im Fall der Frau von der Heiratsvermittlung. Und es gibt ihn auch unter Frauen. Jede vierte schwangeren Angestellten wird in Japan Opfer von Belästigung. Das ist ein riesiges Thema, was angegangen werden muss. Welche Verantwortung haben die Unternehmen und die Gesellschaft insgesamt? Wer ist die Gesellschaft?

Es ist die Gleichgültigkeit anderen Menschen gegenüber, die zu Diskriminierung führt. Wenn wir versuchen würden, uns besser zu verstehen, unsere Unterschiede zu akzeptieren und unsere Fähigkeiten zu respektieren – dann könnte die Diskriminierung weniger werden.

Die Protokolle wurde aufgezeichnet von: Juliane Löffler (Afghanistan, Marokko), Antonia Märzhäuser (Japan), Nana Heidhues (Kolumbien) Katharina Finke (Indien) und Suzana Velasco (Brasilien)

Alle Fotos privat, außer Indien: David Weyand

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