In den vergangenen drei Monaten gab es rekordverdächtige 100 Streiks bei der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Ebenso auffällig ist, dass sich der gewerkschaftliche Aufbruch vor allem in Ostdeutschland zeigt, wo Arbeitskämpfe ein wichtiger emanzipatorischer Schritt sind, um endlich gleichwertige Arbeits- und Lebensverhältnisse herzustellen. In den seit 1990 gesamtdeutschen Gewerkschaften stieg die Mitgliederzahl im Osten zunächst auf fast vier Millionen an, bis 1995 sank sie dann aber rapide auf 2,4 Millionen. Grund war die Überforderung der Gewerkschaften in der Nachwendezeit und die verlorenen Kämpfe gegen die Politik der Treuhandanstalt.
Auch 30 Jahre später ist die wirtschaftliche Einheit nicht vollzogen. Noch immer ist der Osten Billiglohnland. Noch immer gibt es hier vor allem verlängerte Werkbänke, längere Arbeitszeiten, eine geringere Tarifbindung. Bisher galt: Schlechte Arbeitsbedingungen waren der Preis dafür, dass es überhaupt Jobs gab. Doch die Lage hat sich in den letzten Jahren enorm verbessert, der Wind beginnt sich zu drehen. Die Menschen fangen wieder an, sich verstärkt zu organisieren. In den vergangenen Wochen sind vielerorts Arbeiterinnen und Arbeiter aus der Ernährungsindustrie Ost unter dem Motto „Lohnmauer einreißen“ auf die Straße gegangen – mit Maske und Abstand, aber wild entschlossen. Sie sind aufgestanden, haben sich organisiert, auch um Kolleginnen und Kollegen in anderen Betrieben zu unterstützen.
Was die Gewerkschaft NGG Ost unter erschwerten Bedingungen in Corona-Zeiten geleistet hat – übrigens auch mit einer guten Social-Media-Arbeit – zahlt sich nun aus. Zahlreiche gute und einige außerordentliche Tarifabschlüsse wurden erreicht: In Sachsen-Anhalt haben die Werktätigen der Mitteldeutschen Erfrischungsgetränke GmbH ein Tarifplus von mehr als 30 Prozent erkämpft. Damit verdienen sie im 30. Jahr der Einheit endlich so viel wie ihre Kolleg:innen im Westen.
Die NGG hat’s vorgemacht: Arbeitskämpfe sind nur da erfolgreich, wo Gewerkschaften kämpferisch auftreten, Menschen sich selbst auf den Weg machen. Gerade in Ostdeutschland ist das bitter nötig.
Philipp Rubach ist Gründer der Initiative Aufbruch Ost
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