Die Ökonomik hat ein Problem

Paradigma Viele Wirtschaftswissenschaftler verstehen ihre Disziplin als Technik, die die Realität am allerbesten abbilden kann. Das ist falsch. Es braucht ein Korrektiv
Ausgabe 51/2016
Auch der Ökonomik fehlt es an empirischer Grundlage
Auch der Ökonomik fehlt es an empirischer Grundlage

Foto: Zuma Press/Imago

Konjunkturschwankungen auf den Tag prognostizieren, Einflüsse von Steuererhöhungen auf das Bruttoinlandsprodukt im kommenden Jahr berechnen: Diese und andere hochtrabende Ansprüche haben viele Modelle der Wirtschaftswissenschaft. Insbesondere die dominierende neoklassische Theorie versucht, menschliches Verhalten in wirtschaftlichen Situationen mit mathematischen Modellen genau zu berechnen. Doch die so entstehenden wirtschaftspolitischen Empfehlungen verfehlen oft die Lebensrealität der betroffenen Menschen.

Hinter dem Modelldenken verbirgt sich seit 150 Jahren der Anspruch, als einzige Methode reale Wirkungszusammenhänge in der Wirtschaft abzubilden. Doch diesem Anspruch fehlt die empirische Grundlage. Das zeigt ein Blick auf die Entstehung neoklassischer Theorie im 19. Jahrhundert. Die ersten Modelle der Neoklassik stammten nicht aus Überlegungen zu wirtschaftlichen Vorgängen, sondern aus der neuzeitlichen Physik. Vor 1870 waren mathematische Modelle in der klassischen Nationalökonomie nicht präsent wie heute. Wirtschaft war Frage der Moralphilosophie, stets in konkrete politische und gesellschaftliche Prozesse eingebunden. Heute jedoch präsentieren Ökonomen ihre Ergebnisse im Gewand präziser Zahlen und Formeln, die mit Meinung angeblich nichts zu tun hätten.

Doch wie kamen frühe neoklassische Ökonomen dazu, physikalische Modelle als Grundlage für ihre Forschung zu nehmen? Ein Grund dafür war der Siegeszug der mathematischen Naturwissenschaften: Durch die Erfindung des Teleskops konnte Galilei erstmals seine vermuteten Ergebnisse über die Drehung der Erde um die Sonne sinnlich bestätigen. Die sich daraufhin entwickelnde neuzeitliche Naturwissenschaft hob sich nun durch empirische Gewissheit von vorherigen Spekulationen ab. Frühe Naturwissenschaftler gossen diese Ergebnisse mithilfe von Mathematik und Modellen in allgemeine Naturgesetze. Einer von vielen Vorteilen dieser neuen Grundlage war die sich nun entwickelnde Technik.

Die Begeisterung über exakte Aussagen erfasste auch die Begründer der neoklassischen Wirtschaftstheorie. Genau wie Naturwissenschaftler wollten sie eine strenge mathematische Wissenschaft entwickeln, die wirtschaftliches Verhalten präzise beschreibt, und auf dieser theoretischen Grundlage Modelle entwickeln, die Veränderungen prognostizieren können.

Doch die Neoklassik entwickelte sich mit einem gravierenden Unterschied: Während Naturwissenschaftler ihre Theorien mithilfe von Experimenten empirisch bestätigten, arbeiteten die ersten Neoklassiker mit rein theoretischen Überlegungen. Ihnen fehlte jede Möglichkeit, die Gültigkeit ihrer Theorien zu überprüfen, da sich menschliche Handlungen nicht immer genau gleich und im selben Rahmen wiederholen lassen.

Der maximale Nutzen

Auch der Realitätsbezug der Annahmen rückte mit der Zeit in den Hintergrund: Ergebnisse von Gedankenexperimenten wurden wie Ergebnisse echter Experimente behandelt und letztlich als eine eigenartige Form von Wahrheit postuliert, die heute grundlegend für die Volkswirtschaftslehre ist. Ein wiederkehrendes Beispiel hierfür ist die Überlegung, jedes Individuum strebe nach dem maximalen eigenen Nutzen.

Das grundlegende Problem der modernen Neoklassik besteht in der Qualität des Gedankenexperiments im Unterschied zum tatsächlichen Experiment in der Naturwissenschaft. Den meisten Wirtschaftstheorien fehlt die empirische Grundlage. Sie basieren nicht auf Fakten, sondern auf Vermutungen darüber, wie Mensch und Wirtschaft funktionieren.

Hier liegt ein Grund für technokratische Wirtschaftsempfehlungen, die an menschlichen Sorgen und Nöten vorbeigehen. Eine technische Wirtschaftswissenschaft kann diese Punkte nicht fassen. Sie braucht ein Korrektiv: Philosophie, Ethik, Soziologie und verschiedene Wirtschaftstheorien können den Rahmen stellen, um die Arbeit mit Modellen kritisch zu hinterfragen. Ein Pluralismus macht aus der Wirtschaftswissenschaft dann die Wirtschaftswissenschaften. Diese haben eine Vielzahl von Aspekten im Blick und sind der Realität viel näher.

Lisa Kolde und Hannes Bohne sind Mitglieder des Netzwerks Plurale Ökonomik

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