Animationsfilm „Die Sirene“: Pubertät und Apokalypse
Kino Regisseurin Sepideh Farsi erzählt in ihrem 2-D-Animationsfilm „Die Sirene“ von den Ungleichzeitigkeiten des Alltags im Iran während des Ersten Golfkriegs mit dem Irak
Omid (links) verliebt sich in Pari (hinten rechts) und versucht, deren Mutter (vorne) von einem Fluchtversuch zu überzeugen
Abbildung: Grandfilm
Unrecht und Gewalt sind in Die Sirene immer auch eine Frage der Zeiterfahrung. Da wäre zum einen die abrupte Zäsur, der ganz plötzliche, unvermittelte Einbruch, der den Alltag aus den Angeln hebt. In den ersten Minuten dieses Films zeigt Regisseurin Sepideh Farsi eine Gruppe Heranwachsender beim Fußballspiel. Ein Elfmeter, Anspannung, Warten auf den Pfiff. Dann der Schuss, ein Schuh fliegt dem Ball hinterher. Für Sekunden verlangsamt sich die Welt, ehe das Chaos regiert: Raketen schlagen in die nahe liegende Ölraffinerie ein. Flammen lodern auf der Leinwand.
Die Sirene spielt 1980 in Abadan, kurz nach der Iranischen Revolution. Der 14-jährige Omid schlägt sich durch die Hafenstadt, als irakische Streitkräfte angreifen. „Bring dich in Schutz
„Bring dich in Schutz, wenn die Sirene losgeht!“, rät ihm seine Mutter, bevor sie mit dem Auto flieht. Sein älterer Bruder geht derweil an die Front. Omid beschließt, bei seinem Großvater zu bleiben, und wird in die Wirren der Belagerung verwickelt.Wiederholt hat Farsi in ihrer Filmografie iranische Geschichte beleuchtet und sich mit den Protesten in ihrem Herkunftsland beschäftigt, dem Zensur-Regime zum Trotz. Schon länger lebt Farsi im französischen Exil. Der historische Ausnahmezustand des Iran-Irak-Krieges, den sie nun in Die Sirene porträtiert, ist eine Arbeit mit Gleichzeitigkeiten, beobachtet durch jugendliche Augen, die kaum fassen können, wie ihnen und dem Umfeld geschieht.Gefährliche Orte, an denen sich die Ereignisse überstürzen, werden durchstreift, während man anderswo Stillstand sucht. Menschen klammern sich inmitten von Umwälzungen und politischer Restriktionen an ihre Ordnung. Sie versuchen, den Alltag aufrechtzuerhalten, während Bomben explodieren und eine andere Perspektive auf die Zukunft fordern. Schlaglichtartig präsentiert der Film solche Menschen und ihre Vorstellungen von Anpassung und Widerstand, seien es Lieferanten, Militärs, Ingenieure oder eine Sängerin, die seit der Revolution nicht mehr auftreten darf.Kunstfreiheit, Vergnügen – eine verglühende Fantasie. Per Motorrad reist Die Sirene von Figur zu Figur. Die Dichte der vorgeführten Situationen ist dabei zu groß, um in nur 100 Minuten Laufzeit tiefer in einzelne Schicksale blicken zu können. Somit kann sich das Drehbuch von Javad Djavahery nur um ein angerissenes Stimmungsbild bemühen, das von familiären Wohnungen über Schlachtfelder bis zur Hahnenkampf-Arena reicht.Was die Stationen zusammenhält, ist die Momentaufnahme einer verlorenen Jugend. Während die Welt in Trümmern liegt und überall Leid und Tod warten, erfährt Omid die Gewöhnlichkeiten der Pubertät: erste Liebe, Jobs, Freundschaften, eine Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte, Staunen über den Lauf der Dinge, der ein viel zu schnelles Erwachsenwerden fordert. Die Verzahnung der persönlichen Biografie mit der Apokalypse einer Stadt gelingt diesem Film mit erstaunlicher Vielschichtigkeit und Vielstimmigkeit.Stolpern lässt hingegen die animierte Form der Bilder. Die Sirene ist in einem flach gezeichneten 2-D-Animationsstil gehalten. Menschen und Objekte erscheinen teils wie ausgeschnittene Papierflächen, die über die Leinwand bewegt werden. An anderen Stellen lagern sie sich wie transparentes Gewebe übereinander. Abstraktionen wohnen dem Animationsfilm immer inne. Die Sirene macht sich dies zunutze, indem der Realismus der Alltagserfahrungen mit ekstatischen Tagträumen Hand in Hand geht. In einer der markantesten Szenen wird die Sorge um Omids Bruder zur surrealen Horrorvision: Omid kämpft sich durch erstarrte, gespenstische Gestalten, ehe vor ihm verschlungene Treppen in den Himmel wachsen, als kämen sie aus einem Werk von M. C. Escher. Eine Superheldenfantasie, die Menschen kollektiv am TV zur Ablenkung verfolgen, wird im jugendlichen Kopf weitergesponnen. An anderer Stelle zeigen die Bilder erschreckende, verwüstete Landschaften: Erdkrater, Feuer, zerbeulte und zerschossene Autos, die, gleich einer grauenerregenden Kunstinstallation, senkrecht aus den Böden ragen. „Sieh nur, was aus unserer Welt geworden ist!“, heißt es folgerichtig.Wenn es um das Ausmaß menschlichen Schmerzes geht, müssen solche Darstellungen allerdings an Grenzen stoßen. Zerfetzte Leiber, Wunden, Leidende können im Stil dieses Films nur mehr schematische, comichafte Annäherungen bleiben. Zumal er ins Straucheln kommt, wenn es um das Visualisieren von Emotionen geht. Was der menschliche Schauspieler nach außen tragen und an seiner Körperoberfläche lesbar machen kann, vermögen diese animierten Gestalten nur mit Hürden. Sie halten ihr Publikum auf Distanz, und das, obwohl alles in diesem Film nach Unmittelbarkeit strebt. Also wendet der Film sich lieber ab von der expliziten Gewalt, auch thematisch. Nicht im Sinne eines Einknickens oder Wegsehens, sondern eines pazifistischen Strebens.Omid setzt sich in den Kopf, seine Mitmenschen zur Flucht zu bewegen – der Versuch eines ganz eigenen Widerstands. Ein altes Lenj-Schiff verspricht Rettung, doch das Umfeld ist nicht leicht davon zu überzeugen. Zu sehr sehnt man sich nach dem Vertrauten. Erinnerungen bestimmen Heimatgefühle, die sich nicht einfach verschiffen lassen, denn „Erinnerungen nehmen viel Raum ein“, wie Omid zu hören bekommt. Ein Moment des Luftanhaltens und Aufatmens gleichermaßen, dorthin zieht es schließlich Die Sirene.Filmische Geschichtsschreibung bezieht hier Stellung aus der Gegenwart heraus, während ihre losen Fäden ins Offene entschwinden. Als hätte man nur eine traumatische Episode von vielen gesehen, ehe die nächste Wunde aufgerissen wird. Längst gesellen sich jüngere historische Verwerfungen, neue Gräuelbilder und Kämpfe aus dem Hier und Jetzt hinzu. Gestern und Heute verschmelzen im letzten Akt von Die Sirene konsequent zur symbolträchtigen Reise, deren einzige Gewissheit in der Hoffnung auf Freiheit besteht.Eingebetteter MedieninhaltPlaceholder infobox-1
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