Er wäre ja schon längst in Rente

Lettland Ist ein „prorussicher Oligarch“ der zweitpopulärste Politiker des Landes?
Ausgabe 35/2020
Kein europäisches Land stirbt so schnell aus wie Lettland
Kein europäisches Land stirbt so schnell aus wie Lettland

Foto: Ilva Vadone/Imago Images

Ich treffe einen „prorussischen Oligarchen“. Im Winter wurden US-Sanktionen nach dem Magnitski-Gesetz gegen ihn verhängt, seine Konten sind gesperrt. Es geht um Geld und Einfluss, er ist seit 1988 Bürgermeister von Ventspils (Windau), über diesen lettischen Hafen wird russisches Öl exportiert. Mich ziehen Fälle an, in denen das Bewerten der Fakten so schwierig ist, dass man auf sein Gefühl beim Blick in zwei Augen zurückgeworfen ist.

Ich komme von Süden. Kein europäisches Land stirbt so schnell aus, in 30 Jahren minus 30 Prozent, unweit der Küste ist Lettland verlassen. Dann Windau, 38.000 Einwohner, für einige „die aufregendste Stadt Lettlands“, die Deutschordensburg blickt auf den Hafen, der Ostseestrand hinter der Düne ein riesiger Kinderspielplatz.

Im Rathaus empfängt mich ein unüberschaubar großer „Marketing-Stab“. Eine junge Lettin lauscht beim Interview, ein junger Lette filmt es. Aivars Lembergs, 66, ist in Pastelltöne gekleidet, seine Augen sind schmal und lauernd. Er ist Lette, spricht Russisch wie ein Russe, nennt sich aber „prolettisch mit dem Unterschied, dass ich Letten nicht für eine höhere Rasse halte“.

Er sagt, die US-Sanktionen habe „ein Clerk des Staates New York verhängt“, die Anklage sei ihm nie schriftlich zugestellt worden: „Als würde jemand sagen, Sie sind ein Mörder, aber nicht wen ich umgebracht habe.“ Es handle sich um „Sanktionen der lettischen Regierung gegen die Opposition, weil sie in Wahlen nicht gegen mich gewinnen können.“ Die junge Lettin bringt ein englisches Papier. Es enthält Zitate des Justizministers, der sich rühmt, die US-Sanktionen gegen Lembergs erwirkt zu haben, und eine Umfrage, die Lembergs als zweitpopulärsten Politiker Lettlands ausweist. Er führt die Regionalpartei „Für Lettland und Windau“, die zwei bis drei Abgeordnete ins „Bündnis der Grünen und Bauern“ einbringt.

Ich frage ihn, wie man ohne Konto lebt. Seine Rente, „6.000 Euro“, lässt er sich bar zustellen, aber dem Anwalt seiner Straßburg-Klage schuldet er Geld. „Das ist die höchste Errungenschaft der lettischen Demokratie, dass ich meinen Anwalt nicht bezahlen kann!“ Putin hingegen habe „Nawalny das Geld für den Anwalt nicht weggenommen“. Der frühere KP-Funktionär erzählt, dass er den Glauben an die Sowjetunion verlor, als er um 1985 geheime Statistiken etwa über den Alkoholverbrauch sah. Er stimmte für die Unabhängigkeit Lettlands, „agitierte für den EU-Beitritt“, war aber gegen den Euro. Er verteidigt die Austeritätspolitik der EU im Süden, begrüßt aber den Corona-Aufbau-Fonds der EU. Er wirft dem Westen vor, den Osten zu schulmeistern, sich aber seinen eigenen Verbrechen, etwa im „besiegten Afrika“, nicht zu stellen. Die für Srebrenica mitverantwortlichen Holländer kamen ziemlich ungeschoren davon. Er fragt: „Was, wenn diese UNO-Soldaten Weißrussen gewesen wären?“

Den Titel „Oligarch“ weist er als „Mythos“ zurück, er sei „seit 15 Jahren nicht mehr unternehmerisch tätig“. Seine Firmen würden vom Sohn (45) und der Tochter (42) in Riga geführt. „Sie hatten nie eine Viertelmilliarde?“ – „Nein.“ – „Die Kinder?“ – „Ich denke, auch nicht.“ Das kann man ihm glauben oder nicht, am Ende wird mir Lembergs aber noch sympathisch. Als „Produkt der Perestroika“ erinnert er sich an ein „Feuerwerk von Meinungen“ und vergleicht jene Zeit mit der „gelenkten Demokratie“ heute. Er sei in Talkshows gefragt gewesen, nun werde er nicht mehr eingeladen. Spätestens seit der Finanzkrise seien Medien unfreier geworden. Das glaube ich ihm.

Er wäre schon lange in Rente, sagt er, „wenn sie nicht solchen Druck auf mich ausüben würden“. Er hat einen vierjährigen Sohn, er angelt in Seen und Flüssen. Ob er noch einmal antritt, weiß er noch nicht. Die Partei „Für Lettland und Windau“ findet, er muss.

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