Erfahrungsberichte zum Lehrermangel: Grotesk und unsozial
Bildung Eine Lehrerin, zwei Lehrer, eine Mutter, eine Schulleiterin, ein Lehrer im Ruhestand und eine ehemalige Lehramtsstudentin schildern ihre Erfahrungen im System Schule
Ich bin Lehrerin an einer Grundschule in Berlin-Spandau. Wir haben nicht nur zu wenig LehrerInnen, es gibt auch zu wenig Erziehende. Das ist ein Riesenproblem. Die Kinder sind den halben Tag in der Schule, die andere Hälfte in der Betreuung. Es ist mittlerweile leider oft wirklich nur noch Betreuung: Wir sind froh, dass nichts passiert, denn es sind immer zu wenig Leute da, die beaufsichtigen, die Streit schlichten, basteln oder Spiele anleiten können. Unsere Schule hat auf dem Papier 100 Prozent des LehrerInnenbedarfs gedeckt, aber mehrere KollegInnen sind dauerkrank. Dazu kommen die, die kurzzeitig erkranken; so haben wir dauerhaft ein LehrerInnen-Minus von mindestens zehn Prozent, streckenweise bis zu 30 Prozent.
Ich habe eine fünfte Klasse mit mehre
te Klasse mit mehreren Kindern mit einem sogenannten Integrationsstatus. Ich bräuchte also Unterstützung. Früher waren wir durchaus öfter zu zweit als Lehrkräfte in der Klasse. Aber das geht nicht mehr, weil ja erst alle Klassen mit wenigstens einer Lehrkraft abgedeckt werden müssen. Deswegen ärgert es mich, wenn ich die hundertste Erhebung zum Förderbedarf meiner Kinder machen soll: Ich weiß genau, welche meiner Kinder eine besondere Förderung bräuchten. Aber ich kann das leider oft nicht mehr leisten. Ute MaierhofGrotesk und unsozial, findet die MutterTrotz eines Notendurchschnitts von „nur“ 1,8 schaffte es der Sohn an seine Wunschschule, eine solide weiterführende Schule mit gymnasialer Oberstufe, zehn Minuten mit dem Bus entfernt (die Entfernung war wichtig). Es war Losglück dabei, denn Berlin hat nicht nur ein Lehrermangel-, sondern auch ein Schulplatzproblem. Etabliert hat sich daher ein groteskes, unsoziales Vergabesystem. Der Notendurchschnitt (dazu vielleicht eine Begabung in Kunst oder Musik) entscheidet, ob die Bewerbung des Kindes überhaupt eine Chance hat. Dann erst wird gelost.Und wie läuft es so? Nach dem nervigen Schulplatz-Stress, dann dem nervigen „Unterricht“ während der Pandemie gestaltet sich das erste Halbjahr an der Schule nicht minder nervig, weil permanent Unterricht ausfällt. Normal ist, wenn ein Schultag um 10 Uhr startet und um 13 Uhr endet. Die Zensuren für Chemie und Biologie fallen aus. Das Wahlpflichtfach Kochen findet nur noch sporadisch statt. Mir ist schon alles wurscht, dem Sohn auch, er schläft gern aus, muss ihn gleich mal wecken. Ab Klasse 9 soll der Unterricht teilweise in Englisch stattfinden. Are you serious? Katharina SchmitzLehrer für allesWer hätte gedacht, wozu ein Lehramtsstudium in Geschichte und Englisch einen alles befähigt. Denn nicht nur die naheliegenden Fächer in der Gesellschaftskunde darf ich nun regelmäßig abdecken (ob Politik, Ethik, Geo oder Geschichte: ist ja nun wirklich egal!), sondern auch Deutsch, Mathe und Informatik. Lediglich Sport wurde mir noch nicht zu vertreten aufgetragen, aber das ist wohl nur eine Frage der Zeit.Dass dieser Vertretungsunterricht stets qualitativ hochwertig ist, steht außer Frage. Dafür sind viele Schüler:innen an meiner Berliner ISS (eine Integrierte Sekundarschule, keine Raumstation) auch hoch motiviert. Als Resultat der immer noch bestehenden Aufteilung der Schulformen und der damit verbundenen Stigmatisierung haben nämlich bereits Zwölfjährige ihre gesellschaftliche Stellung als zukünftiges Prekariat verinnerlicht und blenden das störende Rauschen der Lehrkraft folgerichtig aus. Dass der Job dann für Menschen, die mal mit Idealen von Bildung als Chance für alle ins Studium gingen, sehr schnell frustrierend wird, ist wirklich keine Überraschung! Paul StephanMultitasking am LimitSchulleiterin an einer bayerischen Mittelschule zu sein, bedeutet vor allem, fit in Multitasking zu sein. Neben der unterrichtlichen Verpflichtung, der amtlichen Schulverwaltung, der dienstlichen Beurteilung von Kollegen*innen, der Organisation von unterschiedlichen Projekten (Ganztag, Praxisklasse, Deutschklasse, Brückenklasse und so weiter) und der Betreuung des externen Personals heißt es vor allem auch die pädagogischen Aufgaben im Sinne der Schüler*innen, der Eltern und der Lehrer*innen zu bewältigen.Wenn dann noch eine Pandemie und der seit Jahren prognostizierte Lehrermangel dazukommen, wirkt sich das auf der Beliebtheitsskala des Berufsbildes „Schulleiter“ äußerst negativ aus. Hat man die Pandemie, wenn auch mit Blessuren, einigermaßen überstanden, wirkt sich das Fehlen kompetenter Lehrerinnen und Lehrer zunehmend katastrophal auf den Schulalltag aus. Die aktiven Lehrer*innen sind erschöpft. Für Abhilfe sollen Aushilfslehrer, Drittkräfte, Brückenkräfte sorgen, die mit Jahresverträgen die Notsituation lindern sollen. Allerdings kommen auch viele von ihnen mit durchaus gutem Willen an ihre Grenzen. Das macht die Lage nicht besser. Viele gute und innovative Kollegen*innen nehmen deshalb Abstand davon, sich für ein Funktionsamt zu bewerben. Sigrid PuschnerLehrerschwemme„Mikätzchen“. So nannte man die 2.354 „Quereinsteiger“, die ab Januar 1964 ohne Studium an Nordrhein-Westfalens Schulen unterrichteten. Der zuständige Minister hieß Mikat, daher der Name. Der Mangel an Lehrkräften war dramatisch, Klassenstärken um die 50 keine Seltenheit. Trotz der Devise, mehr Kinder länger auf bessere Schulen zu schicken.Eins dieser Kinder war ich. Obwohl der Rektor unserer Dorfschule Eltern ohne akademischen Hintergrund davor gewarnt hatte, ihre Sprösslinge den Zumutungen einer höheren Bildung auszusetzen, ging ich zum Gymnasium. Dort begleitete mich der organisierte Unterrichtsausfall bis zum Abitur 1977. Dass ich ein Lehramtsstudium aufnahm, war also kein Wunder. Dummerweise waren wir viele. Um der „Lehrerschwemme“ zu begegnen, zeigte sich die Kultusbürokratie effektiv. Es gab schlicht keine Bewerbungsunterlagen. Das Stellenangebot nur zwei Jahre später kam dann als Überraschung. Nun bin ich im Ruhestand. Und das Schulministerium würde mich gerne weiter unterrichten lassen. Joachim FeldmannVerve. Aber wie lange?Ein stetes „Halloo Hä’ Deniiz!“ in diversen Ton-Spektren: Meine täglichen Bummel durch unsere Oberschule erweisen sich als Slalomlauf von Aufmerksamkeiten gefühlt aller SuS (Schüler:innen). Liebesbekenntnisse als Früchte meiner Arbeit, des Umgangs auf Augenhöhe, der – meist noch vorhandenen – Hingabe für den Job. Schülernähe haben zunächst die meisten Lehramtsanfänger:innen. Mit über sechs Jahren Berufstätigkeit bin ich kein Anfänger mehr. Es ist auch nicht immer so idyllisch. Ich erinnere mich an den Neuntklässler, der mich an der Türschwelle nicht vorbeiließ: „Ach, ster’m’Se doch. Sie Scheiß Drekkslehra.“ Das saß. Und lehrt Abstand. Ein offenes Herz ist anfällig für Wunden.Ja, erst mit den Jahren werden wir vielleicht zu den stereotypen Paukern, Zuchtmeistern, Monstern, die die SuS als Monster sehen. Die stetig steigende Arbeitsbelastung tut ihr Übriges: Anhebung der Wochenstunden von 21 auf 26, vermehrte Verwaltungs- und Gesundheitsamtsaufgaben (Pandemie), Abbau von Doppelsteckungen wegen Personalmangels, Inklusionsauftrag mit wenig Ressourcen. Das zwingt uns, uns zu entscheiden: Selbstschutz oder Burn-out? Auch ich spüre, wie ich mit der Zeit mit der Verve mal geize. Die SuS verzeihen einem aber viel. Diese süßen Monster! Nur, wie lange noch? Serkan DenizIch brach mein Lehramtsstudium abEs war ganz am Anfang meines Studiums, ich besuchte eine erforderliche Lehrveranstaltung zur „Praxisorientierung“, welche meinem Lehramtsstudium schon in den ersten Minuten ein schnelles Ende versetzte. Eigentlich hatte es geheißen, Lehramt sei eine Option. Aber auf einmal war aus der Option Verpflichtung geworden, aus einer Handvoll Anforderungen zehn Hände voll.Ich sprach mit meinen Kommiliton:innen, die ebenfalls verdutzt auf die Leinwand mit den plötzlich verpflichtenden Praxisangeboten schauten. Und ich bereute meine Entscheidung, die Lehramtsoption gewählt zu haben. Welche nun keine Option mehr darstellte. Ich fühlte mich überrumpelt von Anforderungen, die vorher nicht zur Sprache gekommen waren oder die ich mir, laut Studiengangausschreibung, hätte offenhalten können. Sollte ich in ein Lehramtsstudium hineingedrängt werden? Hatte man mich mit einem falschen Angebot gelockt? So wollte ich nicht studieren, der Umfang schüchterte mich ein und ich fühlte plötzlich eine große Distanz zu dem, wo das Studium hinführen sollte. Liz Jacobs
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