Sinnfluencer Ist Fynn Kliemann das schwarze Schaf der deutschen Sinnfluencer? Oder ist er repräsentativ für eine Szene, die zwar Sinn stiften, aber gleichzeitig viel Geld verdienen will? Eine Analyse
Können diese Augen lügen? Die Zuschauer mit einem schuldbewussten Dackelblick fixierend, entschuldigte sich Fynn Kliemann kürzlich auf Instagram bei seiner Community. „Ich hab‘ so viel Scheiße gebaut, und dann einfach versagt als dieser Typ, der ich niemals sein wollte: ein Unternehmer. Es tut mir wirklich leid, und ich hoffe, ihr könnt mir verzeihen!“ – mit dieser Botschaft wandte sich der Netz-Star in einem achtminütigen Video an seine über 750.000 Follower.
Im Frühjahr 2020 schlug der selbsternannte Heimwerkerking, der durch Bau- und Bastelvideos auf YouTube bekannt geworden ist, noch ganz andere Töne an: Damals feierte er sich dafür, Schutzmasken gegen die Ausbreitung der Corona-Pandemie zu produzieren. Und das se
Und das selbstredend aus lauter Menschenliebe: Um „fair produzierte, wiederverwendbare Mundbedeckungen aus Europa“ handele es sich, die nicht nur „1/10 von den Dingern der überteuerten Profitgeier“ kosten, sondern nebenbei auch noch Arbeitsplätze retten würden. Und natürlich sollte dabei der schnöde Mammon keine Rolle spielen: Die Masken sollten zu Selbstkosten vermarktet werden, so Kliemann.Von diesem Versprechen zeigten sich die Fans begeistert und kauften so zahlreich Masken, dass die Server zwischenzeitlich überlastet waren. Ein Geschäft, das nun knapp zwei Jahre später fragwürdig erscheint, nachdem bei einer Recherche des ZDF Magazin Royale allerlei Ungereimtheiten in Kliemanns Geschichte entdeckt worden sind. Nicht nur, dass der Unternehmer kräftig an den Masken verdient hat; des Weiteren wurde bekannt, dass die Produktionsstandorte in Wahrheit Vietnam und Bangladesch lauteten – und dass zu allem Überfluss auch noch mangelhafte Masken an Flüchtlinge „gespendet“ worden waren.Sinnfluencer sollen Welt verbessernEine derartige Enthüllung wäre für jede Person des öffentlichen Lebens eine rufschädigende Blamage, ganz besonders jedoch für jemanden vom Schlage Fynn Kliemanns: Immerhin gilt er als eines der bekanntesten Gesichter der deutschen Sinnfluencer-Szene, die eine Gegenkultur zu den vielen konventionellen Netzstars etablieren will, die für stumpfen Konsumismus und schiere Oberflächlichkeit stehen. „Was soll ich heute anziehen? Wie wird der neue Starbucks-Drink schmecken? Schaffe ich es, in fünf Minuten 300 Euro bei dm auszugeben?“Um diese (und verwandte Fragen) dreht sich das Leben der allermeisten Top-Influencer wie Bianca Claßen oder Simon Desue. Dass es ihnen um Konsum und Kommerz geht, nimmt ihnen keiner ihrer Follower übel, vielmehr handelt es sich dabei um den eigentlich gewünschten Inhalt (neudeutsch: Content) dieser Prominenten. Sie stellen auf YouTube, Instagram, TikTok und Co. ihr banales Alltagsleben aus, das permanent mit Werbung angereichert wird: Vom Frühstück bis hin zum Filmabend lässt sich theoretisch (und praktisch) alles zu Marketingzwecken ausschlachten. Es kann daher auch kaum die Rede davon sein, dass diese Follower trotz der Werbung zuschauen würden – sie schalten genau deswegen ein. Das Influencer-Programm funktioniert wie eine gigantische Dauerwerbesendung, in der die Grenzen zwischen Unterhaltung und Werbung immer weiter verschwimmen.Anders verhält es sich bei den Followern der sogenannten Sinnfluencer: Dieses Publikum verlangt nach einem Content, der die Welt verbessert, im Großen wie im Kleinen. Oftmals geht es dabei um Themen wie Nachhaltigkeit, Toleranz oder Selbstliebe (das neue Modewort für „Egozentrismus“), und Fynn Kliemann schwamm lange erfolgreich auf dieser Welle mit. 2016 kaufte er einen Reiterhof im niedersächsischen 250-Seelen-Dorf Rüspel und eröffnete dort das „Kliemannsland“ – ein Ort, an dem jede und jeder die Möglichkeit bekommen sollte, sich kreativ auszutoben. Quasi ein Hort der Freiheit in einer kalten Welt, den Kliemann kurz nach der Gründung als egalitäres Projekt anpries: „Du kannst da nämlich alles machen, es gibt keine richtigen Gesetze. Wir sind die Chefs, ihr seid die Chefs! Zusammen wollen wir dieses Ding entwickeln und zu dem coolsten Land machen, das es jemals auf der Welt gegeben hat!“Hütchenspieler im KliemannslandEin Pippi-Langstrumpf-Projekt, bei dem auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk schnell dabei war: Von 2016 bis 2020 gehörte der Kliemannsland-YouTube-Kanal zum ÖRR-Jugendprogramm funk. Hunderttausende Fans sahen Kliemann und seinen Freunden in diesen Jahren beim gebührenfinanzierten Hämmern, Sägen, Schrauben, Krachmachen und Spaßhaben zu – und kauften ganz nebenbei die von ihm gestalteten Produkte. Damit jeder aus seinem Zuhause ein kleines Kliemannsland machen konnte, wurde die Community mit passendem Werkzeug und Wollmützen ausgestattet, und bei einem solchen Tausendsassa durfte natürlich auch das eigene Album nicht fehlen: Seine 2018 erschienene Debütplatte nie wurde in einem genialen Marketingcoup nur ein einziges Mal physisch produziert, nämlich so oft, wie sie vorbestellt wurde. Und der Chartzählung verweigerte sich Kliemann auch. Wer braucht schon kalte Zahlen, wenn er eine warme Community hat? „Hütchenspieler schreiben die besten Lieder“, diese mit Reibeisenstimme zu poppigen Beats gesungene Zeile sollte sich in den folgenden Jahren mehr und mehr bewahrheiten.Denn kleine und große Fauxpas gab es seitdem immer wieder: Etwa, als Kliemann im Herbst 2020 für drei Monate eine Handwerkerin suchte, und in seiner Anzeige nichts als Kost und Logis zu bieten hatte – eine Entlohnung konnte der Mann, der gerne einmal 282.000 Euro aus Maskendeals vergisst, sich nicht leisten. Oder, als der YouTuber kurz nach Start seines Ferienwohnung-Portals LDGG (Lass dir gut gehen!) erstaunt feststellte, dass er nun ein Vermieter sei. „Das war aber nie der Plan!“ Und auch nach der peinlichen Enthüllung durch das Böhmermann-Team (und der danach eingeleiteten Ermittlung durch die Staatsanwaltschaft wegen Betrugsverdachts) riss die Berichterstattung nicht ab: Nun wird Kliemann auch noch beschuldigt, bei der Versteigerung von NFTs geschummelt zu haben: Als er im Frühjahr 2021 insgesamt 99 Jingles als digitale Kunstwerke mit eindeutig zugewiesenem Eigentumstitel verkaufte, soll er über die Auktionsdauer hinaus Angebote angenommen haben, um mehr Geld einzunehmen. Als wäre es nicht schon peinlich genug, den bereits wieder abebbenden Spekulationshype um NFTs in Deutschland prominent angeschoben zu haben!„Wie viel Okayheit ist noch in Ordnung?“ Dieser Frage ging Timon Karl Kaleyta 2018 aufgrund der vielfältigen Betätigungsfelder, auf denen Kliemann bereits damals dilettierte, nach. Heute müsste die Frage wohl eher lauten: Wie viel Schusselsein ist noch in Ordnung? Kann jemand so naiv sein, dass er nach Jahren erfolgreicher unternehmerischer Tätigkeit aus Versehen Auktionen zu lange laufen lässt und den Eingang sechsstelliger Summen auf seinem Konto nicht mehr vermerkt? Selbst dem wohlwollendsten Beobachter dürften da Zweifel kommen. Nun ist Kliemann mit seinem Sinnfluencing nicht alleine, es gibt viele weitere Erfolgsgeschichten ähnlicher Art. Und es stellt sich die Frage: Ist Kliemann das schwarze Schaf der Gemeinde, oder nicht vielleicht doch repräsentativ für eine Influencer-Sphäre, die zwar Sinn stiften, aber gleichzeitig viel Geld verdienen will?In diesem Widerspruch – guter Mensch und erfolgreicher Unternehmer zugleich sein zu wollen – befinden sich alle Sinnfluencer. Viele von ihnen haben eine Kommunikationsstrategie gefunden, die erstaunlich gut funktioniert. Wenn ein Ricardo Simonetti LGBTQI*-Sonderbotschafter des Europäischen Parlaments wird, obwohl die EU-Staaten für allerlei diskriminierende Gesetzgebungen stehen; wenn eine Greenfluencerin wie Louisa Dellert allen ökologischen Ratschlägen über Plastikmüll zum Trotz in den Urlaub fliegt, dann gibt das keinen Shitstorm bei den Followern. Denn diese werden von ihren Vorbildern gleich in vorauseilendem Gehorsam besänftigt: Nobody is perfect, und deshalb solle man bei diesen Widersprüchen bitte sehr nicht allzu kritisch nachfragen – ein richtiges Leben im falschen gibt es eben nicht!Ob diese Strategie im Falle Fynn Kliemanns noch aufgehen wird, scheint fragwürdig – viele Kooperationspartner wie die Tafel, der Energieversorger EWE oder Viva con Agua haben die Zusammenarbeit bereits eingestellt. Vielleicht hätte Kliemann von Anfang an ehrlich sein und sich in eine Reihe mit Bibi, Karl Ess und Xlaeta stellen sollen. Denn diese sind am Ende des Tages die ehrlicheren Werbestars – bei ihnen wird aus Gewinnabsicht und Konsumismus wenigstens kein Hehl gemacht.
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