Generationen von Sucht

Serie Julia Hertäg bewundert den Überlebenswillen einer Mutter in der Netflixserie „Maid“
Ausgabe 45/2021

Bei Nacht und Nebel verlässt Alex (Margaret Qualley) den Vater ihres Kindes. Auf Zehenspitzen trägt sie ihre schlafende Tochter aus dem Haus, hastig und ängstlich. Diese Eingangssequenz ist voller Suspense – doch was genau der Grund dieser Angst ist, bleibt lange in der Schwebe. „Wofür soll ich ihn anzeigen?“, fragt Alex ihre Fallbearbeiterin auf dem Sozialamt, „dafür, dass er mich nicht geschlagen hat?“ Über die Art des Missbrauchs, den Alex erlitten hat, empört sich nicht einmal ihre eigene Familie. Im Gegenteil, in der Welt, in der die Serie spielt – weiß, ländlich, arm –, wird emotionaler Missbrauch gar nicht als solcher wahrgenommen. Als Alex ganz am Ende ihren Vater bittet, vorGericht zu bezeugen, dass ihr Ex sie emotional missbraucht habe, schüttelt dieser den Kopf. Nicht, weil er ihr nicht helfen will, wie er versichert. Doch er habe keinen Missbrauch gesehen. Er habe ein junges Paar in einer schwierigen Phase gesehen.

Eine eindeutige Antwort darauf, wie und warum Alex zum Opfer wird, gibt die Serie bis zum Ende nicht. Was sie aber sehr sorgfältig zeichnet, ist das Bild einer Gesellschaft, in der sich dysfunktionale Muster über Generationen fortsetzen. In Alex’ Umfeld ist Sucht epidemisch. In Maid sind es vor allem die Männer, die unter ihrem Einfluss gewalttätig werden. Nicht, dass sie sich keine Mühe geben. Alex’ Kindsvater Sean lernen wir über die erste Hälfte der zehn Folgen vor allem als trockenen Alkoholiker kennen, der sich liebevoll um seine Tochter bemüht. Doch mit dem Rückfall kehren alte Muster zurück. Die eindeutige Verteilung von Schuld geht dennoch nicht: Sean selbst litt als Kind unter der Medikamentensucht seiner Mutter.

Viel Raum nimmt in Maid die Rolle von Alex’ Mutter Paula ein, die von Margaret Qualleys realer Mutter Andie MacDowell laut und exzentrisch verkörpert wird. Die Kluft zwischen ihrem Selbstbild als sexuell befreite Künstlerin, die ihrem inneren Spirit folgt, und ihrer offensichtlichen Abhängigkeit von der Aufmerksamkeit der Männer hätte Potenzial zu Komik, doch ist der Serie daran gelegen, dass wir die Emotionen ihrer Figuren ernst nehmen. Auf jeden Fall spiegelt die „undiagnostiziert bipolare“ Paula auf geradezu geniale Weise die Widersprüche der hier porträtierten Gesellschaft. Paula verschließt nicht nur die Augen vor dem Missbrauch ihrer Tochter, sondern auch vor ihrem eigenen, der sich als roter Faden durch ihre Männerbeziehungen zieht. Ihr Leben ist ein Exempel für die Unzulänglichkeit des Systems, das sich um Menschen wie sie nicht schert. Zugleich würde die Inanspruchnahme staatlicher Unterstützung Paulas gesamtes Welt- und Selbstbild infrage stellen, weshalb sie den Kontakt nach Möglichkeit vermeidet. An dieser Mutterfigur zeigt sich die widersprüchliche Dynamik des Kreislaufs, dem Alex zu entfliehen versucht.

Die Serie zeigt Alex auf ihrem Weg in die Unabhängigkeit, der von schier unüberwindbaren Hürden und dramatischen Rückschlägen gepflastert ist. Keine (schimmelfreie) Wohnung ohne Geld, kein Job ohne Kinderbetreuung, keine Kinderbetreuung, wenn das Kind krank ist, usw. Die Hilfestellungen durch die Institutionen sind so ungenügend, dass Alex von einer Notlage in die nächste gerät. Das Drama, das sich aus dieser viel gelebten Realität ergibt und über das Stephanie Land in der Vorlage Maid: Hard Work, Low Pay, And A Mother’s Will To Survive aus eigener Erfahrung schrieb, wird jedoch nicht als puristische Sozialbeobachtung erzählt, sondern als Hollywood-Märchen. Keine Gelegenheit für große Emotionen wird ausgelassen: Flashbacks, Träume, innere Bilder nehmen uns mit in Alex’ Welt. In einer Folge wird die Serie gar zum Thriller.

Ein paar Mal zu oft sehen wir Alex mit Kind in lichtgetränkten, musikuntermalten Montagen. Das Glückspotenzial treibt einem die Tränen in die Augen. Aus der unbedingten Mutterliebe schöpft die Heldin zweifellos ihre große Entschlossenheit. Einmal abgesehen von der Unwahrscheinlichkeit, dass eine junge Frau, die aus so dysfunktionalen Verhältnissen kommt, in der Lage wäre, sich in jeder Situation so zu verhalten, wie es sich der Zuschauer von ihr wünscht, und als Mutter dabei ausnahmslos liebevoll und geduldig bliebe: In Maid erleben wir, wie schwer es für diese starke und schöne Heldin ist, einer solchen Situation zu entkommen. Doch zeigt sich auch in dieser Geschichte, dass der Überlebenswille am Ende nicht allein entscheidend ist.

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