Netflix-Serie „Beef“: Wo Wut gut tut

Streaming Die Netflix-Serie „Beef“ nimmt einen Fall von Straßenaggression zum Anlass für eine komplexe Erzählung über Migration und Depression. Barbara Schweizerhof über ein allzu bekanntes Gefühl
Ausgabe 15/2023
Verliert langsam die Nerven: Danny (Steven Yeun) in „Beef“
Verliert langsam die Nerven: Danny (Steven Yeun) in „Beef“

Foto: Andrew Cooper/Netflix

Das englische „road rage“ bringt es so viel besser auf den Punkt als unser amtsdeutsches „Aggression im Straßenverkehr“. Vielleicht liegt es an der kehligen Alliteration der r und dem Doppelschlag der bündigen Zweisilbigkeit, dass man sofort das Gefühl wiedererkennt, das in Danny (Steven Yeun) aufsteigt, als ihn beim Ausparken vor einem Supermarkt ein heftig abbremsender SUV anhupt und dazu eine Hand aus dem Fenster den Mittelfinger ausstreckt. Es braucht keine Sprechblasen, um „Dem zeig ich’s!“ von seiner Stirn abzulesen, als er daraufhin aufs Gaspedal tritt und die Verfolgung aufnimmt. Danny gibt alles, überfährt Ampeln, Mittelstreifen und sogar willentlich einen Vorgarten – und muss das feindliche Auto am Ende doch ziehen lassen, ohne auch nur das Gesicht des Fahrers gesehen zu haben. Aber er hat sich das Kennzeichen eingeprägt und kennt Wege, wie man an die Adresse des Halters kommt ...

Die Sequenz bildet nicht nur den Auftakt der Netflix-Serie Beef, sie bleibt als Urszene im Gedächtnis, als Quelle eines Gefühls, aus dem sich alle folgenden Episoden der Serie speisen, mit Emotionen wie Ohnmacht, Wut, Frustration und dem nagenden Zweifel sowohl an der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns als auch an der Liebenswürdigkeit der eigenen Person. Mit anderen Worten: Alltag.

Das ist der ganz große Trick, der den Serienmachern unter Führung von Drehbuchautor Lee Sung Jin gelingt: das irrationale Handeln, das in Beef zu thrillerartigen Plotverwicklungen führt und damit auch für Spannung und großes Sehvergnügen sorgt, absolut glaubwürdig, ja sogar als von soziologischen Beobachtungen inspiriert erscheinen zu lassen. Nicht jeder, der schon einmal „road rage“ erlebt hat, würde tun, was Danny tut, als er die Adresse des SUV-Fahrers herausbekommt. Aber man versteht ihn besser, als man vielleicht zugeben will.

Amy und Danny teilen viel, trotz verschiedener Lebensumstände

In der bloßen Beschreibung der Serie mag zunächst einiges nach Formel klingen: Natürlich treffen mit Danny und dem SUV auch zwei Klassen aufeinander. Danny ist ein sich am Rande des Bankrotts abmühender Handwerker, im SUV dagegen sitzt die erfolgreiche Businessfrau Amy (Ali Wong), die gerade dabei ist, das von ihr gegründete Unternehmen für einige Millionen Dollar weiterzuverkaufen, um endlich mehr Zeit mit der kleinen Tochter und dem liebenden Ehemann zu verbringen.

Aus dem „road rage“-Vorfall lässt sich bereits ableiten – auch das ein bisschen ein Klischee –, dass die beiden trotz gegensätzlicher ökonomischer Ausgangssituationen auch viel verbindet. Danny mag im Leben Pech gehabt haben – ein krimineller Cousin hat den Ruin des Familienunternehmens herbeigeführt, woraufhin seine Eltern nach Südkorea zurückkehrten und den jüngeren, nutzlosen Bruder Paul (Young Mazino) in seiner Obhut beließen –, aber die existenzielle Getriebenheit, die ihn immer wieder wie absichtlich ins Unglück rennen lässt, hat noch andere Ursachen. Dass Amy trotz Wohlstand, wunderschönem Zuhause, süßer Tochter und dem mit Zufriedenheit den Hausmann gebenden Gatten George (Joseph Lee) eine ähnliche Existenznot umtreibt, erzählt die Serie aber keineswegs als weitere „Geld macht nicht glücklich“-Geschichte, sondern als Folge vieler Prägungen. Dass beide Figuren, sowohl Danny als auch Amy, Menschen mit Migrationserfahrung sind, gehört zwingend dazu.

Eingebetteter Medieninhalt

Statt aber plakative Erklärungen zu Immigration und asiatischem Assimilationsvermögen zu bebildern, fächert Beef im Hintergrund eine Vielfalt an spezifischen, sprechenden Details auf. Da wäre etwa die von koreanischen Migranten getragene evangelische Kirche, der sich Danny am Tiefpunkt seines Lebens zuwendet und die Serie wunderbar realistisch mit nur einem Hauch Satire in Szene setzt. Oder die Komplexität von Amys Familiengefüge zwischen Vietnam, China, Japan und den USA, bei der schwelende gegenseitige Vorurteile in subtilen Gesten Ausdruck finden.

Sowohl Steven Yeun als auch Ali Wong gelingt es dabei, hinter ihrer Fassade der sich verbeißenden Kontrahenten fesselnde Tiefen von Unsicherheit und Liebessehnsucht sichtbar zu machen. Vollgepackt mit Plot-Twists und beständig schwankend zwischen Komödie, Tragödie und dem ganz großen Knall, gleicht die Serie einer wahren Achterbahnfahrt.

Beef Lee Sung Jin USA 2023, 10 Folgen, Netflix

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