Ein Gespenst geht um in Europa.“ Mit diesem berühmten Satz leiten Karl Marx und Friedrich Engels das Manifest der Kommunistischen Partei ein. Heute wird Europa erneut von einem Gespenst heimgesucht. Aber anders als 1848, als Marx und Engels ihr Traktat schrieben, ist es nicht der Kommunismus, sondern die Faulheit. Vorbei sind die Tage, als sich die Oberklassen vor einem wütenden Pöbel fürchteten, der ihnen die Schädel einschlagen und die Besitztümer rauben würde. Heute besteht ihr größter Feind in den Heerscharen fauler Penner, deren hedonistischer Lebensstil – finanziert durch erdrückende Steuern für die Reichen – den Lebensnerv der Wirtschaft lähmt.
In Großbritannien zieht die Cameron-Regierung permanent über die Wohlfahrts-Gammler aus den Vororten her, die sich nach einer harten Nacht mit Sky Sports und Online Casino ausschlafen. Deren schamloses Verlangen nach „Etwas für Nichts“, dem einst die Labour-Regierung nachgab, habe für das gewaltige Defizit gesorgt, dem Britannien jetzt ausgesetzt sei, lautet die Legende.
In der Eurozone glauben viele, die Euro-Krise müssten faule mediterrane Typen in Griechenland und Spanien verantworten. Die hätten jahrelang auf Kosten hart ranklotzender Deutscher gelebt und ihre Zeit mit Espresso-Schlürfen verbracht. Solange diese Leute nicht hart arbeiten müssen, werde es mit der Eurozone nichts. Das Problem an dieser Geschichte besteht darin, dass sie bloß eine Geschichte ist.
Das L’Oreal-Prinzip
Zunächst einmal resultieren Haushaltsdefizite der EU-Länder vorrangig aus fallenden Steuereinnahmen, wie sie für eine Rezession typisch sind, und nicht aus wachsenden Sozialausgaben. Überdies arbeiten ärmere Leute normalerweise im Großen und Ganzen härter – und länger. Der OECD zufolge gingen die Menschen in Griechenland, dieser Nation von Drückebergern, im Jahr 2011 durchschnittlich 2.032 Stunden arbeiten. Sie lagen damit nur knapp hinter den Workaholics in Südkorea mit 2.090 Stunden. Im gleichen Jahr „schufteten“ die Deutschen nur 1.413 Stunden (30 Prozent weniger als die Griechen), während die Niederlande offiziell die „faulste“ Nation der Welt waren und es lediglich auf 1.379 Arbeitsstunden im Jahr brachten.
Wenn diese Faulheits-Legende derart fadenscheinig ist, warum wird sie dann so oft geglaubt? Weil in den Jahrzehnten marktliberaler Dominanz viele dem Mythos erlagen, wonach das Individuum für sein Schicksal vollständig selbst verantwortlich sei. Das beginnt mit den Disney-Trickfilmen, die wir als Kinder sahen und die uns erzählten: Wenn du an dich glaubst, kannst du alles erreichen! Wir wurden mit der Botschaft bombardiert, dass Individuen – und nur sie – dafür zuständig seien, was sie im Leben bekämen. Das L’Oreal-Prinzip eben: Wenn Einige mehrere Millionen Euro im Jahr verdienen, liegt es daran, dass sie das „wert sind“. Wer stattdessen arm bleibt, ist entweder nicht gut genug oder hat sich zu wenig bemüht. Da es politisch riskant ist, die Armen für ihre Inkompetenz zu kritisieren, wird stellvertretend der träge Gammler attackiert, dem es an Moral fehlt. Am Ende werden im Namen des Kampfes gegen die Faulen Institutionen geschleift, die bisher den Armen geholfen haben.
Per Herkunft diskriminiert
In den Augen jener, die vom heutigen System unverhältnismäßig profitieren, liegt der Vorteil dieser Weltsicht auf der Hand: Sie reduziert alles auf den Einzelnen und lenkt von den strukturellen Ursachen der Armut und Ungleichheit ab. Es ist bekannt, dass schlechte Ernährung, fehlende Lernanreize in sozial benachteiligten Elternhäusern und schlechte Schulen arme Kinder daran hindern, ihre Fähigkeiten und ihre Zukunft zu entdecken. Wer so aufwächst, muss sich ständig gegen Vorurteile behaupten, die entmutigen und klein machen, vor allem wenn jemand das falsche Geschlecht oder die falsche Hautfarbe hat.
Mit dieser Last auf ihren Schultern fällt es den Armen selbst auf dem gerechtesten Markt schwer, das Rennen zu machen. Ohnehin werden Märkte häufig zugunsten der Reichen manipuliert. Wir sahen das bei so vielen Skandalen, als Finanzprodukte unter Vorspiegelung falscher Tatsachen verkauft und Aufsichtsbehörden belogen wurden.
Insofern ist es unerlässlich, dass Armut und Ungleichheit auf ihre strukturellen Ursachen hin abgeklopft werden. Ein wichtiger erster Schritt wäre es, die Debatte vom schädlichen Mythos des faulen Mobs zu befreien.
Ha-Joon Chang ist Dozent für Ökonomie an der Universität Cambridge Übersetzung: Steffen Vogel
Kommentare 14
Nicht die Faulen sind das Problem sondern die Fleißigen. In einem System, das Arbeit permanent überflüssig macht, wird der ganze Arbeitsfetisch lächerlich.
"Gemeinsinn war für große wie kleine Griechen ein Fremdwort."
Der Grieche also doch ein asoziales Arschloch?
Ich hoffe sehr, das ausschließlich die griechische Meidung des staatlich / institutionalisierten Gemeinsinnes gemeint ist?
Für diese Meidung gibt es doch nachvollziehbare Gründe.
Der Link ist gut, danke!
bandbreitenmodell.de/vision
Dann bin ich beruhigt.
Wie wäre es mit Eulen aus Athen?
"Da wir ja wissen, dass reales Leiden von den Regierungen selbst verursacht wird, dies im Wege von Gesetzen, Beschlüssen und Verordnungen zum Schutz der Hochfinanz, der Banken und aller Ausplünderungsmethoden die eine moderne, sich zum Kapitalismus bekennende Demokratie zu bieten hat, muss hier einfach gezyndelt werden. Was also kann man hier empfehlen? Richtig, das Verbot solcher Regierungen könnte dann am Ende nicht nur das „verbotene“ virtuelle, sondern sogar das reale Leid abschaffen."
http://qpress.de/2013/02/11/verbotene-bilder-griechenlands-erfolgreicher-kampf-gegen-das-elend/
so ist es!
Ich würde schon einen Unterschied machen zwischen fremdbestimmter Erwerbsarbeit zur Produktion von Gütern und Dienstleistungen, welche letztendlich nur einen Verdrängungswettbewerb beinhaltet, weil es solche Güter und Dienstleistungen schon hundertfach in allen möglichen Varianten gibt, und zwischen dem, was Arbeit als Verwirklichung individueller intrinsischer Motive ist.
"Das unternehmerische Risiko trägt auch die Belegschaft, ja die hat sogar noch das Entlassungsrisiko zu tragen!!"
* * * * *
Welches unternehmerisches Risiko ?
Auch ein gescheiterter Unternehmer bekommt HarzIV, und davon kann man leben, hat ein Gericht beschlossen.
Toller Beitrag. Interessant und passend dazu: offener Brief mehrer Wissenschaftler und linker Politiker fordert die 30h Woche in Deutschland.
http://www.alternative-wirtschaftspolitik.de/show/6619884.html
Die Bezeichnung von Armen als "Arbeitsscheue" hat in Deutschland ja eine lange und traurige Tradition.
Schon die Nazis rechtfertigten damit die Zwangsarbeit und die "Vernichtung durch Arbeit" und auch die SPD bezeichnete in dieser Tradition Arbeitslose als "Parasiten" um die Hartz IV Reformen mitsamt der wiedereingeführten Zwangsarbeit zu rechtfertigen.
Leider fallen diese Vorwürfe in Deutschland immer wieder auf fruchtbaren Boden, daher wurde das Konzept auch auf Europa ausgedehnt und daher müssen heute auch Griechen und Spanier, u.a., mit diesen Diffamierungen leben (und sterben).
Und weil es so praktisch ist, wird dieses Konzept sicherlich weiterverfolgt, eine Abkehr davon ist jedenfalls nicht zu erkennen.
Vielen Dank für den Beitrag.)
Gut, dass einige Akademiker jetzt doch mal auf die Idee gekommen sind, sich zusammen zu tun und einen offenen Brief zu verfassen, um sich gegen weitere Verelendung zu wenden. Es ist richtig, dass gerade Wissenschaftler solch ein Verhalten an den Tag legen müssen. Es wird immer sehr viel über Rechte gesprochen? jetzt wird es Zeit über die Pflichten zu sprechen, die Menschen haben, die mehr Wissen als andere. Anderenfalls würde Wissenschaft wohl auch gar keinen Sinn ergeben. Ich bin gespannt.)
Naja, jetzt haben zu mindestens einige Individuen den Anfang gemacht. Der Rest könnte gemeinschaftlich erarbeitet werden (Arbeitsgruppen bilden). Zum Beispiel könnten diese sich zusätzlich professionelle Hilfe von integralen Denkern, die bereits seit Jahren an einer integralen Kultur arbeiten, persönlich einholen. Es gibt seit mehr als ein Jahrzehnt das integrale Institut. Die beschäftigen sich mit allen Bereichen unserer Wirklichkeit simultan. In einer permanenten Gesamtschau. Im Gegensatz zu deren Leistungen, geben die Weltweiten Amtsinhaber ein richtiges Armutszeugnis ab. Kein Wunder, dass der Planet, samt allen Lebewesen, vor einem Kollaps steht. Bäume sind nichts nichts mehr wert, Tiere sind nichts mehr wert, Menschen sind nichts mehr wert. Aber schlimmer geht immer ? Und das ist eben nicht alternativlos.
Marxismus und die Grünen
(aus: Eros Kosmos Logos, Krüger 1996,S. 245)
Die einzige ernstzunehmende soziale Bewegung von globaler Natur ist bis heute die internationale Arbeiterbewegung (Marxismus), der ein großes und bleibendes Verdienst zukommt, die aber auch eine fatale Schwäche hat. Das Verdienst besteht in der Entdeckung eines gemeinsamen Zugs aller Menschen, unabhängig von Rasse, Glaubensbekenntnis, Nationalität, Mythologie oder Geschlecht: Wir alle müssen unser körperliches Überleben durch gesellschaftliche Arbeit dieser oder jener Art sichern: Wir alle müssen essen. So sind wir aufgrund der gesellschaftlichen Arbeit alle im selben Boot, alle Weltbürger. Diese Bewegung war echt und ernsthaft und für sehr viele Menschen einleuchtend und glaubwürdig genug, um die ersten wirklich global gemeinten Revolutionen von Rußland bis China und bis nach Südamerika auszulösen.
Soweit die wirklich anerkennenswerte Seite. Die fatale Schwäche bestand darin, daß diese Bewegung die höheren kulturellen Bestrebungen nicht nur auf die Grundlage des ökonomischen und materiellen Bereichs, der gesellschaftlichen Arbeit und des materiellen Austauschs stellen wollte, sondern sie darauf zu reduzieren versuchte; sie wollte Kultur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduzieren, auf materielle Produktion, materielle Werte und materielle Mittel, und alle Produktion höherer Art, insbesondere alles spirituelle, war nur noch Opium fürs Volk.
Der Marxismus stellte also die Noosphäre nicht allein auf die Grundlage der Physiosphäre (was wegen des zusammengesetzten Charakters der Individualität entscheidend wichtig ist), sondern reduzierte die Noosphäre auf die Physiosphäre - was sich als derart abwegig herausstellte, daß sich die Evolution jetzt nach kaum einem Jahrhundert ernsthaft daran gemacht hat, diesen Irrtum aus der Welt zu schaffen. Da die reduktionistische Seite des Marxismus keinerlei Rückhalt im Kosmos fand, mußte das Ganze in eine religiöse Mythologie umgedeutet und dann unter imperialistischem Zwang durchgesetzt werden.
Eine zweite große Bewegung, die eine gewisse Eignung als Träger einer Weltbürgerschaft besitzt oder zu besitzen vorgibt, ist die der Grünen. Ich habe sehr viel Sympathie für diese Bewegung, solange sie sich als ein Unterfangen neben anderen versteht, aber ich glaube, sie besitzt nicht im entferntesten die nötige Integrationskraft für eine globale Föderation von Weltbürgern, die sich ihre Grundsätze freiwillig zu eigen machen (unter Zwang vielleicht,aber das wäre kein ungehinderter globaler Diskurs, sondern wieder nur gewaltsame Einigkeit).
Die Grünen machen im Grund den gleichen Fehler wie die Marxisten, weil sie die unbestrittene und unbestreitbare Tatsache, dass niedrigere Ebenen grundlegender sind als höhere, zum Anlaß einer Reduzierung des Höheren auf das Niedrigere nehmen. Aber das Grundlegendere ist allein nicht ausreichend für das Leben des Höheren und Tieferen. Wo die Marxisten alles auf materielle Austauschprozesse der Physiosphäre zurückzuführen versuchen, reduzieren die Grünen alles auf ökologische Austauschprozesse der Biosphäre. Das ist zwar ein Schritt über den Marxismus hinaus, bleibt aber eine Wissenschaft des kleinsten gemeinsamen Nenners, die zwar (wie der Marxismus) in ihrem Geltungsbereich wichtiges leistet, aber jenseits eines gewissen Punktes katastrophal wird und vor allem völlig außerstande ist, Weltbürgerschaft über diesen Punkt hinauszutreiben.
Zu ihrer philosophischen Plattform machen die Grünen a) den Gedanken, daß die Kultursphäre oder Noosphäre Teil des größeren Ganzen der Biosphäre ist, und b) die Systemtheorie als Wissenschaft vom Gewebe des Lebens. Der genannte Gedanke ist, wie wir gesehen haben, schlicht falsch, und die Systemtheorie stellt, wie wir ebenfalls gesehen haben, eine etwas martkschreierische Form des subtilen Reduktionismus dar. Die Biosphäre ist grundlegender als die Noosphäre, aber eben deshalb nicht höher, sondern niedriger und seichter; und das Niedrigere kommt in aller Evolution zuerst, vor allem anderen.
Die Grünen meinen nun, das Erste und Grundlegendste müsse auch das Letzte und Höchste sein - ein schwerer Irrtum, der dazu führt, daß sie wie die Marxisten die biomaterielle Dimension durchforsten und zu bereinigen versuchen, was dort nicht in Ordnung ist. So gut und begrüßenswert das ist, sie kommen darüber nicht hinaus, sie finden keine integrativen Ansätze zu einem tieferen Bewußtsein, zu höherem Umfangen, zu echter Gesamtschau, zu etwas wirklich Befreiendem - nur zu eher theoretischer und regressiver biosphärischer Indissoziation. Und wie die Marxisten haben sie für alle wahrhaft tieferen oder höheren Bestrebungen nichts anderes als das Vokabular des sozialen Reduktionismus parat: "Eskapismus", "Opium", "Illusionismus", "falsches Bewusstsein".
Ein wirklich integrativer Ansatz, der von den tatsächlichen historischen Gegebenheiten unserer Zeit ausgeht, um eine Weltkultur zu schaffen, wird sicher auch für eine gerechtere Verteilung im materiell-ökonomischen Bereich und für tragbare ökologische Verhältnisse zu sorgen haben, also die Anliegen der Marxisten und der Grünen berücksichtigen. Aber er wird weit darüber hinausgehen müssen und sich ganz direkt und ohne jeden Reduktionismus auf die Noosphäre und ihre Verteilungsprobleme und Fehlentwicklungen einlassen...
Gesellschaftliche Arbeit kann uns als Weltbürger insoweit einigen, als wir Materie gemeinsam haben - weiter nicht. Ökologische Vernunft kann uns als Weltbürger insofern einigen, als wir alle einen Körper haben - weiter nicht. Es wird einer Schau-Logik-Bewegung von gewaltiger Integrationskraft bedürfen, um uns als Weltbürger zentaurisch zu einigen, das heißt insofern, als uns Materie und Körper und Geist (ganz zu schweigen vom GEIST und dem Selbst, die all dem vorausgehen) gemeinsam sind.
http://www.kenwilber.com/home/landing/index.html
http://www.integralinstitute.org/
"Es macht nicht Arbeit überflüssig,sonst wären längst alle arbeitslos.
im Gegenteil, da es immer neue Bedürfnisse weckt, sorgt es dafür, dass immer genug Arbeit da ist."
Hallo Herr Rauch,
ich nehme Ihnen nicht ab, dass Sie den Satz gründlich durchdacht haben. Jeder Produktivitätsfortschritt, hier die Arbeitsproduktivität, ist ein ständig fortschreitender Prozess, mehr Güter zu produzieren, bei weniger Arbeitseinsatz. Wobei natürlich auch gilt: konstante Güterproduktion bei weniger Arbeitseinsatz.
Als bestes Beispiel möge hier der Primärsektor, die Landwirtschaft dienen. Der Output ist um ein Vielfaches, der Arbeitseinsatz, die Beschäftigung dramatisch gesunken.
Die Mär, dass im gleichen Maße oder gar mehr Arbeitsplätze erzeugt wurden, kann nur noch als Propaganda verstanden werden, denn die Fakten sprechen längst dagegen. Die Zeiten des Wachstums, die deutlich über der Produktivitätsentwicklung lagen, sind vorbei, jedenfalls in hochentwickelten Gesellschaften.
Arbeit ist nicht gleich (sinnvolle) Beschäftigung. Sinnvolle Beschäftigung gibt es genügend, die wird aber häufig nicht oder nur gering bezahlt. Das Ziel der Produktivität sollte doch eigentlich sein, möglichst viele Menschen aus der "abhängigen Arbeit" (frei)zustellen und damit die Möglichkeit eröffnet wird, sinnvolle Tätigkeiten auszuüben.
Und natürlich ist richtig: wenn ich in einem Unternehmen qualitativ und quantitativ besser arbeite, kann der Unternehmer den "Mehrwert" zu verschiedenen Zwecken nutzen. Warum sollte er aber zwei beschäftigen, wenn es auch einer kann.
Schauen Sie sich die Entwicklung in der Automobilindustrie an. Was geschieht im Moment? Um Kosten zu drücken, wird wieder länger und flexibler gearbeit und noch auf Lohn verzichtet. Wir erleben wieder eine "Überproduktionskrise". Und eine"Nachfragekrise", denn weniger Lohn bedeutet auch weniger Nachfrage.
Richtig ist ihr Hinweis auf Arbeitszeitverkürzung, die aber nicht mit Lohnverzicht einhergehen darf. Hier muss Produktivitätsforschritt in Arbeitszeitverkürzung umgewandelt werden.
Also es gibt ja zweifellos eine Menge "Sozialschmarotzer" - nur nicht unbedingt (nur) da, wohin üblicherweise mit den Fingern gezeigt wird.
Und es gibt Leute, die eine Menge leisten und zu Recht eine Menge dafür bekommen - es sei denn, sie sind dummerweise Frauen. Dann bekommen sie zu Unrecht weniger.
Und es gibt Leute, die (z.B. als Erben) eine Menge bekommen, ohne zwangsläufig und in jedem Fall auch eine Menge zu leisten.
Das alles muss man möglichst verständlich und gut recherchiert unter die Leute bringen.
Was mich aber ein bisschen stört, ist der einseitige Jammerton, der solche Debatten häufig dominiert. Da ist mir dann zu viel christliche Soziallehre und zu wenig ökonomisches Zweckdenken im Spiel. Für die herrschende Kaste gehört Ersteres aber in die Sonntagspredigt. Letzteres in den Arbeitsalltag.
Ich denke also, dass man in einer Gesellschaft, die vom Neoliberalismus durchseucht ist, auch hin und wieder mit "neoliberalen" Tönen kontern sollte. Oder doch solchen, denen sich auch der Neoliberale nicht verschließen kann, sofern Gier Hirn noch nicht gefressen hat.
Am häufigsten kann man in Sozialstaatsdebatten als Pro-Argument von der befriedenden Funktion von Sozialpolitik hören. Das Problem dabei ist, dass dieses Argument umso weniger Gehör findet, je länger der soziale Frieden bereits andauert. In dieser Situation befinden wir uns.
Fast nie hört man eine ökonomische Begründung für Sozialpolitik, z.B. die Möglichkeit, durch Sozialpolitik Konjunkturzyklen abzuschwächen und die wirtschaftliche Entwicklung zu verstetigen. Ein bisschen scheint jetzt immerhin ins Bewußtsein zu dringen, dass zu wenig Umverteilung die Basis jeder produzierenden Wirtschaft zerstört: den Konsum.
Ich denke, hier wäre ein Umdenken erforderlich, das darauf abzielt, die Möglichkeiten der Sozialpolitik zu thematisieren, die der Förderung und Stabilisierung des Kapitalismus dienen. Die "soziale Marktwirtschaft" war darin sehr erfolgreich, nur war sie nicht in der Lage, sich in den Krisen sinnvoll weiter zu entwickeln, weil die herrschenden Kreise nur die Gelegenheit sehen wollten, das ungeliebte System abzuschaffen und in einen amerikanisierten Kapitalismus überzuführen.
Das war in sofern auch "zwingend", als es sich vor allem unter der CDU-Herrschaft eingebürgert hatte, Sozialpolitik nicht unter ökonomisch sinnvollen Überlegungen zu betreiben, sondern um damit Stimmen zu kaufen. Um aus diesem Backschisch-System herauszukommen, war "Hartz" vielleicht sogar nötig. Auf seiner Basis könnte eine Neubesinnung stattfinden...?
Wie so eine Stabilisierung durch Sozialstaat funktioniert hat D in der Finanzkrise z.B. mit dem Instrument der Kurzarbeit erfolgreich vorgeführt. Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherung wären noch wichtigere Beispiele, die aber viel zu sehr unter dem Aspekt der Belastung und nie unter dem Aspekt der wirtschaftlichen Stabilisierung betrachtet werden.
Es ist aber so, dass ohne diese Unterstützungen sich Abschwünge erheblich verschärfen würden, wenn mit ihnen Millionen nicht mehr hinreichend konsumieren könnten. Dieser Aspekt scheint mir bei den Hartz-Maßnahmen völlig unter den Tisch gefallen zu sein.
Diese Leistungen müssten also als ökonomisch notwendiges und erwünschtes bedingtes Grundeinkommen betrachtet werden, nicht als im Grunde überflüssige Wohltat - was sie auch gar nicht sind.
Dann müssten sie in einen Pflicht- und einen flexiblen Teil aufgeteilt werden. Ersterer müsste ein menschenwürdiges Leben garantieren, letzterer könnte als Instrument der Konjunkturpolitik eingesetzt werden. So wie z.B. die unsoziale Mittelschicht-Beglückung durch die "Abwrackprämie". Eine Möglichkeit wäre z.B. ein flexibles Weihnachtsgeld.
Mir scheint, wenn Sozialpolitik so betrieben würde, würde sie auch den Geruch einer Alimentierung von "Losern" verlieren. Das allein kann es aber nicht sein. Denn Sozialleistungen sollten auch Chancengleichheit bei der Entfaltung von Potentialen herstellen.
Ein Beispiel, das nach meiner Kenntnis in diesem Zusammenhang nie untersucht wurde, wäre der Zuzsammenhang zwischen Sozialpolitik und sozialer Integration bzw. sozialem Aufstieg bei den Flüchtlingen und Vertriebenen nach dem Krieg. Hier könnte man herausfinden, wie und weshalb die Sozialpolitik von den Betroffenen in unterschieldicher Weise genutzt wurde.
Klar ist, und damit komme ich zum Beitrag zurück, dass die Bildung ganz zentral ist. Sie kann schon einmal besser wirken, wenn Sozialleistungen nicht mehr diskriminierend praktiziert und wahrgenommen werden. Und dabei wäre es schon mal unerlässlich, dass die Eltern, die von Sozialleistungen leben und arbeitsfähig sind, zu menschenwürdigen Tätigkeiten im staalichen/ Gemeinwohl- Bereich herangezogen werden.
Auch würde es helfen, wenn Bildung konsequent von ihren nahezu ausschließlich bildungsbürgerlichen Inhalten gelöst und für Inhalte geöffnet würde, die auch für Nicht-Bildungsbürger attraktiv sind....
Das alles müsste natürlich im Detail durchdacht werden. Das kann ein spontaner Kommentar nicht leisten. Entscheidend ist, um daran nochmals zu erinnern, Sozialpolitik als integralen Bestandteil von intelligenter Wirtschaftpolitik zu begreifen. Der "Sozialtouch" scheint mir eher kontraproduktiv zu sein. "Schröders" hatten da womöglich eine richtige Idee, aber dann eine völlig verkehrte Umsetzung.