Penner und Gammler

Mythos Faulheit Wie uns die Eurokrise und die unverschämten Reichtümer der Privilegierten erklärt werden, damit die neoliberalen Glaubenssätze zu ihrem Recht kommen
Espressoschlürfen vs. Maloche? Die Legende der faulen und fleißigen Europäer in der Krise
Espressoschlürfen vs. Maloche? Die Legende der faulen und fleißigen Europäer in der Krise

Foto: Alberto Pizzoli/ AFP/ Getty Images

Ein Gespenst geht um in Europa.“ Mit diesem berühmten Satz leiten Karl Marx und Friedrich Engels das Manifest der Kommunistischen Partei ein. Heute wird Europa erneut von einem Gespenst heimgesucht. Aber anders als 1848, als Marx und Engels ihr Traktat schrieben, ist es nicht der Kommunismus, sondern die Faulheit. Vorbei sind die Tage, als sich die Oberklassen vor einem wütenden Pöbel fürchteten, der ihnen die Schädel einschlagen und die Besitztümer rauben würde. Heute besteht ihr größter Feind in den Heerscharen fauler Penner, deren hedonistischer Lebensstil – finanziert durch erdrückende Steuern für die Reichen – den Lebensnerv der Wirtschaft lähmt.

In Großbritannien zieht die Cameron-Regierung permanent über die Wohlfahrts-Gammler aus den Vororten her, die sich nach einer harten Nacht mit Sky Sports und Online Casino ausschlafen. Deren schamloses Verlangen nach „Etwas für Nichts“, dem einst die Labour-Regierung nachgab, habe für das gewaltige Defizit gesorgt, dem Britannien jetzt ausgesetzt sei, lautet die Legende.

In der Eurozone glauben viele, die Euro-Krise müssten faule mediterrane Typen in Griechenland und Spanien verantworten. Die hätten jahrelang auf Kosten hart ranklotzender Deutscher gelebt und ihre Zeit mit Espresso-Schlürfen verbracht. Solange diese Leute nicht hart arbeiten müssen, werde es mit der Eurozone nichts. Das Problem an dieser Geschichte besteht darin, dass sie bloß eine Geschichte ist.

Das L’Oreal-Prinzip

Zunächst einmal resultieren Haushaltsdefizite der EU-Länder vorrangig aus fallenden Steuereinnahmen, wie sie für eine Rezession typisch sind, und nicht aus wachsenden Sozialausgaben. Überdies arbeiten ärmere Leute normalerweise im Großen und Ganzen härter – und länger. Der OECD zufolge gingen die Menschen in Griechenland, dieser Nation von Drückebergern, im Jahr 2011 durchschnittlich 2.032 Stunden arbeiten. Sie lagen damit nur knapp hinter den Workaholics in Südkorea mit 2.090 Stunden. Im gleichen Jahr „schufteten“ die Deutschen nur 1.413 Stunden (30 Prozent weniger als die Griechen), während die Niederlande offiziell die „faulste“ Nation der Welt waren und es lediglich auf 1.379 Arbeitsstunden im Jahr brachten.

Wenn diese Faulheits-Legende derart fadenscheinig ist, warum wird sie dann so oft geglaubt? Weil in den Jahrzehnten marktliberaler Dominanz viele dem Mythos erlagen, wonach das Individuum für sein Schicksal vollständig selbst verantwortlich sei. Das beginnt mit den Disney-Trickfilmen, die wir als Kinder sahen und die uns erzählten: Wenn du an dich glaubst, kannst du alles erreichen! Wir wurden mit der Botschaft bombardiert, dass Individuen – und nur sie – dafür zuständig seien, was sie im Leben bekämen. Das L’Oreal-Prinzip eben: Wenn Einige mehrere Millionen Euro im Jahr verdienen, liegt es daran, dass sie das „wert sind“. Wer stattdessen arm bleibt, ist entweder nicht gut genug oder hat sich zu wenig bemüht. Da es politisch riskant ist, die Armen für ihre Inkompetenz zu kritisieren, wird stellvertretend der träge Gammler attackiert, dem es an Moral fehlt. Am Ende werden im Namen des Kampfes gegen die Faulen Institutionen geschleift, die bisher den Armen geholfen haben.

Per Herkunft diskriminiert

In den Augen jener, die vom heutigen System unverhältnismäßig profitieren, liegt der Vorteil dieser Weltsicht auf der Hand: Sie reduziert alles auf den Einzelnen und lenkt von den strukturellen Ursachen der Armut und Ungleichheit ab. Es ist bekannt, dass schlechte Ernährung, fehlende Lernanreize in sozial benachteiligten Elternhäusern und schlechte Schulen arme Kinder daran hindern, ihre Fähigkeiten und ihre Zukunft zu entdecken. Wer so aufwächst, muss sich ständig gegen Vorurteile behaupten, die entmutigen und klein machen, vor allem wenn jemand das falsche Geschlecht oder die falsche Hautfarbe hat.

Mit dieser Last auf ihren Schultern fällt es den Armen selbst auf dem gerechtesten Markt schwer, das Rennen zu machen. Ohnehin werden Märkte häufig zugunsten der Reichen manipuliert. Wir sahen das bei so vielen Skandalen, als Finanzprodukte unter Vorspiegelung falscher Tatsachen verkauft und Aufsichtsbehörden belogen wurden.

Insofern ist es unerlässlich, dass Armut und Ungleichheit auf ihre strukturellen Ursachen hin abgeklopft werden. Ein wichtiger erster Schritt wäre es, die Debatte vom schädlichen Mythos des faulen Mobs zu befreien.

Ha-Joon Chang ist Dozent für Ökonomie an der Universität Cambridge Übersetzung: Steffen Vogel

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