Sylt ist überall

Rechtsextremismus Auf Sylt singen reiche junge Leute in einer Edel-Bar aus vollem Hals Neonazi-Parolen. Das zeigt: Rechtsextremes Gedankengut ist in bürgerlichen Kreisen längst gesellschaftsfähig. Es wird Zeit, dass die Gesellschaft aufwacht
Unter dem Pflaster liegt der Führer (Sylt, 1933)
Unter dem Pflaster liegt der Führer (Sylt, 1933)

Foto: Stefan Sauer / picture alliance / dpa-Zentralbild / ZB

Gestern noch 75 Jahre Grundgesetz gefeiert, heute dann die bundesweit um sich greifende Empörung über mutmaßliche Rich Kids auf Sylt, die „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ über Gigi D’Agostinos Partyklassiker und Lovesong „Lamour tojours“ grölen. Einer der abgefilmten Personen macht Hitlergrüße.

Das erste Mal begegnete mir der Spruch in meiner Heimatstadt Zwickau. Ich war 12 Jahre alt, saß im Matheunterricht meines Gymnasiums und vom Vorplatz schrien kahlrasierte Neonazis auf einer Kundgebung der NPD die rassistische Parole. Heute sehe ich ein Video ebendieser Parole auf Social-Media und es handelt sich nicht um springerstiefeltragende, organisierte und ostdeutsche Neonazis ohne Kohle, sondern um reiche Kids, die eigentlich nichts zu fürchten haben. Was das zeigt?

Nazi-Parolen sind längst kein Randphänomen mehr

Spätestens im Jahre 2024 müssen wir uns vom Klischee der sofort erkennbaren Neonazis, die Thor-Steinar-Klamotten tragen, verabschieden. Man muss sich nicht selbst als neonazistisch betiteln, um neonazistisches Gedankengut zu verbreiten – man muss nicht wie ein neonazistisches Arschloch aussehen, um sich wie ein neonazistisches Arschloch zu verhalten. Das Aussprechen rassistischer Sprüche ist kein Randphänomen von gewaltbereiten Neonazigruppen, sondern ein tief in der Gesellschaft verwurzeltes normalisiertes Handeln.

Dass die Empörung über den ekelerregenden Videoclip von Scholz bis Faeser und von Musikern wie Finch bis Haftbefehl reicht, mag einerseits beruhigen und stimmt mich andererseits nachdenklich. Denn die Empörung im Netz ist wahrlich nicht das, was die Zustände nachhaltig verändert. Das Paradoxe ist schließlich auch, dass sich das Video, sogar mit einem noch so empörenden Kommentar, immer weiterverbreitet und mittlerweile millionenfach geklickt wurde. Ich finde es bedenklich, dass sich auch durch solche Empörungswellen Begriffe wie „Remigration“, also ein beschönigender Begriff für die massenhafte Vertreibung von Menschen, oder eben rassistische Hassgesänge, am Leben halten. Doch Schweigen wäre auch keine Option – ein Dilemma.

Finanzminister Christian Lindner will die Gefahr nicht sehen

Glücklicherweise haben die Betreibenden des Lokals, in dem der rassistische Videoclip aufgenommen wurde, ihrer Empörung Taten folgen lassen. Sie distanzierten sich „von jeder Art von Rassismus und Diskriminierung“ und gaben Namen von Beteiligten an die Polizei weiter. Umso wichtiger wäre es, wenn jetzt auch Sylt-Fans wie Bundesfinanzminister Christian Lindner Taten folgen lassen würden. Denn wenn dieser sich, wie letztens bei der Digitalmesse OMR, weigert den Zusammenhang zwischen mangelnden Investitionen und Rechtsruck anzuerkennen und wissenschaftlichen Studien „nicht glaubt“, dann ist die Krise perfekt und wir müssen uns nicht wundern, wenn sich der Rassismus weiter verfestigt in Ost- wie Westdeutschland.

In der ostdeutschen Provinz warnen wir seit Jahren vor der Normalisierung der alltäglichen Diskriminierung. Offensichtlich hat das nicht ausgereicht, denn dass nach Grundgesetzpartys und rassistischen Grölereien endlich Maßnahmen folgen, ist leider noch immer nicht selbstverständlich. Wir gehen weiter auf die Straßen! Zum Beispiel morgen in Erfurt und Greiz, vor den Kommunalwahlen in Thüringen.

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