Richter, bleib bei deinen Leisten

Karlsruhe „Wir gehen nach Karlsruhe“ ist längst ein Kampfruf in Berlin geworden. Man könnte bisweilen den Eindruck bekommen, das Bundesverfassungsgericht sei selbst ein Gesetzgeber
Ausgabe 17/2015

Den richtigen Zeitpunkt zu finden, ist für jede Diskussion wichtig. Oder, wie unsere englischen Freunde sagen: Das Timing muss stimmen. Wenn jetzt Unionspolitiker wie Bundestagspräsident Norbert Lammert das Bundesverfassungsgericht kritisieren, weil es sich in die Tätigkeit des Gesetzgebers einmischt – und zwar unabhängig davon, ob im besonderen Fall das Grundgesetz tangiert wird oder nicht – dann wird ihnen natürlich sofort entgegengehalten: Das tut ihr nur, weil euch in Karlsruhe eine Niederlage beim Betreuungsgeld droht. Aber das Thema ist von einiger Brisanz. Deshalb ist es auch verdrießlich, wenn man es mit dem Hinweis auf das Betreuungsgeld zurückweist. Nur zur Erinnerung: Schon das Urteil zur Drei-Prozent-Hürde bei der Europa-Wahl hat teils derbe Kritik an Karlsruhe herausgefordert.

Wie ernst das Thema ist, geht aus den Erinnerungen des SPD-Politikers Carlo Schmid hervor, der einer der Väter des Grundgesetzes beim Verfassungskonvent in Herrenchiemsee 1948 war. Schmid schreibt in dem 1979 erschienenen Buch: „Manche üben an dem Ausmaß der Kompetenz des Verfassungsgerichtes Kritik: Die Bundesrepublik sei kein Rechtsstaat mehr, sondern ein Justizstaat, denn diese Verfassungsbestimmungen machten es möglich, die Gerichtsbarkeit zu einem Instrument der Politik zu denaturieren, indem man politisch motivierte Meinungsverschiedenheiten über die Zweckmäßigkeit eines Gesetzes oder einer Maßnahme der Regierung durch Formulierungskünste in Meinungsverschiedenheiten über deren Rechtmäßigkeit umfunktioniert.“ Damit ist das Problem exakt beschrieben. Schmid fährt aber fort: „Die Kritik geht fehl.“ Seine knappe Begründung ist dann freilich weit weniger exakt und führt zu dem Satz: „Liegt es nicht gerade im Wesen des Rechtsstaates, dass sich seine Organe unter das Joch des Rechts zu beugen haben?“

War zu Beginn noch die Rede von „Formulierungskünsten“ und „umfunktionieren“, so wird der Leser anschließend mit der Metapher vom Joch konfrontiert. Carlo Schmid wusste natürlich, dass ein Joch ganz unmetaphorisch auch etwas Demütigendes hat und oft Unrechtes erzwingt. Das hatte er an dieser Stelle wohl verdrängt. Unbewusst ließ er die Wahrheit in seine Sprache fließen.

Heute, 35 Jahre später, ist das „Wir gehen nach Karlsruhe“ in Berlin schon längst ein Kampfruf geworden, mit der eine im Bundestag unterlegene Partei trotzige Haltung demonstrieren will. Dann schlägt die Stunde der Formulierungskünstler und zu Ehren des Bundesverfassungsgerichts muss man sagen, sie sind nicht immer erfolgreich. Dennoch entsteht nicht selten der unschöne Eindruck, es gebe in der Bundesrepublik zweierlei Legislative: Der Gesetzgeber im Parlament und der Gesetzgeber namens Bundesverfassungsgericht. Und der letztere behalte immer Recht. Einspruch vergeblich.

Am sichtbarsten ist das beim Familienrecht. Über kein Thema wurde in Herrenchiemsee erbitterter gestritten. Man weiß daher ganz genau, was die Mütter und Väter des Grundgesetzes sich unter der Familie vorstellten. Das mag sich seither drastisch geändert haben. Aber darauf zu reagieren – auch mit einer Anpassung des Grundgesetzes – ist Aufgabe des Bundestages, der darüber in diversen Ausschüssen, auch öffentlich, mit Soziologen, Medizinern und Historikern, wohl auch Juristen berät. Artikel des Grundgesetzes neu zu fassen oder zu modifizieren, ist nicht die Aufgabe eines Senates in Karlsruhe.

Das Bundesverfassungsgericht hat das Grundgesetz so zu nehmen, wie es ist, und es nicht nach seinen, in diesem Fall unmaßgeblichen, Auffassungen über die Veränderung von Staat, Gesellschaft und Familie zu kritisieren. Über das Grundgesetz, wie es ist, befindet nämlich ganz allein der Gesetzgeber in Berlin.

Der Autor und Journalist Jürgen Busche schreibt in seiner Kolumne Unter der Woche regelmäßig über Politik und Gesellschaft

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