Schuld erbst du nicht

Debatte Ob Deutscher, Türke oder Kroate: Verantwortung für die Zukunft haben alle, sagt Autor Nicol Ljubić
Ausgabe 42/2017
Ein Mensch kann nicht schuldig sein für etwas, das lange vor seiner Geburt stattgefunden hat
Ein Mensch kann nicht schuldig sein für etwas, das lange vor seiner Geburt stattgefunden hat

Foto: Imagebroker/Imago

Der Fußball lässt mir die Wahl, vor jeder Europa- oder Weltmeisterschaft werde ich gefragt, ob ich für Deutschland oder Kroatien sei. Ich kann so lange für beide sein, bis sie aufeinandertreffen wie bei der WM 1998. Und weil ich die in einem Raum voller Deutscher geschaut habe, war ich allein aus Trotz und des Alleinstellungsmerkmals wegen für Kroatien. Als Erklärung reichte der Satz: „Ich bin in Kroatien geboren.“ Jeder im Raum hatte Verständnis dafür (oder akzeptierte es zumindest), dass ich für die Dauer eines Fußballspiels den deutschen Teil meiner Identität ausblendete und stattdessen für ein Land jubelte, mit dem mich nicht viel mehr als ein Geburtsort und ein Name verbindet. Ich glaube, manche im Raum waren sogar ein wenig neidisch auf mich, weil ich dieses andere Land in meiner Biografie hatte, auf das ich mich beziehen konnte, wenn es unangenehm wurde als Deutscher, weil die Geschichte mal wieder belastete.

Deutsche Schuld heute

Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“, hat Joachim Gauck 2015 im Bundestag gesagt. Aber wird das so bleiben? Die Zeitzeugen sterben und Menschen prägen das Land, deren Vorfahren weder Täter noch Opfer waren. „Die Frage, wie eine Vergangenheit gegenwärtig bleibt, wenn die biografischen Bezüge fehlen, stellt sich ebenso, wenn diese Bezüge sich allmählich auflösen, wie wenn es sie nie gab“, schrieb Navid Kermani in der FAZ. Darüber wollen wir diskutieren. Mit Intellektuellen, Autoren, die einen sogenannten Migrationshintergrund haben. In der Ausgabe 36 erklärte die Soziologin Naika Foroutan: „Sich verbunden zu fühlen, ist keine Frage der Nationalität. Sondern eine der Erziehung.“ Deniz Utlu schrieb in Ausgabe 39, welche Rolle die deutsche Sprache für ihn dabei spielt. Unser heutiger Debatten-Autor Nicol Ljubić fühlt sich nicht schuldig – aber verantwortlich dafür, dass die Erinnerung an den Holocaust nicht verblasst.

Und damals konnte sogar ein Fußball-Länderspiel unangenehm sein. In jeden Torjubel mischte sich das schlechte Gewissen und die Frage, ob es als Deutscher angemessen sei, so zu jubeln, nach allem, was war. Keiner meiner Freunde wäre auf die Idee gekommen, die Nationalhymne mitzusingen oder sich die deutschen Farben auf die Wange zu malen. Es erstaunt mich im Nachhinein, wie leicht sie es mir machten, mich freizusprechen von einer Vergangenheit, die sie verunsicherte, für die sie aber genauso wenig Schuld trugen wie ich, waren wir doch alle lange nach dem Krieg geboren. Es erstaunt mich auch, wie leicht es mir immer noch gemacht wird. Allein die Frage, wie ich als migrantischer Autor mit der deutschen Schuld umgehe, impliziert, ich könnte weniger Verantwortung tragen, nur weil ich in einem anderen Land geboren wurde und einen Vater habe, der erst Anfang der 1970er Jahre Deutscher wurde und mir einen Nachnamen vermacht hat, der mich für die meisten Deutschen immer noch zu einem Menschen „nicht-deutscher Herkunft“ macht.

Opas Krieg war sein Motorrad

Meine deutsche Identität auszublenden, fühlte sich beim Fußball schon wie ein Verrat an. Ich kannte schließlich die Verunsicherung, die meine Freunde spürten. Ich saß im selben Geschichtsunterricht, führte dieselben Diskussionen und Deutsch ist die Sprache, mit der ich aufgewachsen bin. Es lag weniger daran, dass meine Mutter Deutsche ist und auch ich deswegen einen familiengeschichtlichen Bezug zum Nationalsozialismus habe. Ein solcher familiengeschichtlicher Bezug bedeutet nämlich nicht zwangsläufig, dass man besonders sensibilisiert und sich deswegen auch einer Verantwortung besonders bewusst wäre. In meinem Fall – und da bin ich beileibe nicht der Einzige – wurde in der Familie weder über die Ermordung von Juden noch über die Schuld der Deutschen gesprochen.

Meinen Großvater beschäftigte vor allem die Erinnerung, dass ihm britische Soldaten nach dem Krieg sein Motorrad konfisziert haben. Und wenn meine Großmutter vom Krieg erzählte, was selten vorkam, dann erzählte sie von der Flucht aus Schlesien und wie sie zuvor als junges Mädchen von der Mutter aus dem Haus geschickt wurde, wenn mal wieder russische Soldaten in Sicht waren, sie erzählte von Vergewaltigungen und fing dann an zu weinen. Für mich als Kind war das jedes Mal sehr beklemmend, weil ich nie wusste, wie ich mich verhalten sollte, wenn meine Großmutter zu weinen begann. Meine Mutter, die im März 1945 geboren wurde, hat nie auch nur ein einziges Wort über den Krieg verloren. Der familiengeschichtliche Bezug allein hätte mir ein Geschichtsbild vermittelt, in dem der Holocaust und all die anderen Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus nicht vorgekommen wären. Darüber, dass Millionen von Juden ermordet und vertrieben wurden, hat aus meiner Familie nie jemand gesprochen. Wo es keine Verbrechen gab, gab es natürlich auch keine Schuldigen. Und wenn, waren es wahlweise Hitler oder die Nazis.

Was die Frage der Schuld und überhaupt das Reden über den Nationalsozialismus betrifft, unterscheiden sich meine deutsche und meine kroatische Familie nicht groß voneinander. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hat nie stattgefunden. Immerhin hat es in Kroatien die Ustascha gegeben. Das Schweigen – hierin liegt dann wohl meine Schuld – hat mich nie dazu veranlasst, eine ernsthafte Auseinandersetzung zu erzwingen. Als ich so weit war, zu fragen, waren meine Großeltern schon tot. Ob sie Widerstandskämpfer waren, Täter oder fernab von allem gelebt haben, hätte aber auch nichts daran geändert, dass ich eine Verantwortung dafür habe, dass sich solche Verbrechen niemals wiederholen.

Ich bin nie einem Überlebenden des Holocaust begegnet, zumindest keinem, von dem ich es wüsste und der mir von seinen Erinnerungen erzählt hätte. Weder in der Schule noch bei einem Besuch in einer Gedenkstätte. Diese wohl nachhaltigste und wirkungsvollste Form des Erinnerns, oder besser Erinnertwerdens, fand nie statt. Was ich weiß, weiß ich aus der Schule, aus Romanen, Filmen und Ausstellungen. Und ich möchte behaupten, dass ich trotzdem ein Gefühl für die Größe des Verbrechens habe und die Bedeutung, die der Holocaust für dieses Land hat mitsamt seiner Verantwortung, die niemals erlischt.

Zweimal in meinem Leben war ich in Situationen, in denen ich mit dieser deutschen Schuld persönlich konfrontiert wurde. Einmal vor vielen Jahren im Libanon. Eine Bekannte, Libanesin, die eine amerikanische Elite-Uni besucht hatte und danach als Journalistin arbeitete, fuhr mich an verschiedene Orte. Wir waren im damals von Israel besetzten Süden und in Schatila, einem Flüchtlingslager in Beirut, in dem aus Israel vertriebene Palästinenser bis heute unter schwierigsten Umständen leben. Irgendwann im Auto sagte die Bekannte, wir hätten es richtig gemacht, damals mit den Juden. Es war das erste Mal, dass ein Mensch, den ich kannte, so unverhohlen eine solche Entsetzlichkeit artikulierte. Mir blieb die Luft weg, wie nach einem Schlag in den Solarplexus. Dass es das Unfassbarste sei, das ich je gehört hätte, sagte ich, und wie sie so etwas sagen, ja überhaupt denken könne. Es war nicht die Tatsache, dass sie mich zum Täter machte, es ging nicht ums „Wir“, und natürlich habe ich nicht eine Sekunde darüber nachgedacht, mich als Kroaten auszugeben. Es ging schließlich nicht um ein belangloses Fußballspiel. Ich fühlte mich nicht als Deutscher angesprochen, sondern als Mensch. Ich war entsetzt, dass sie mir als Mensch unterstellte, Verständnis für die Ermordung von sechs Millionen Menschen haben zu können.

Schlag in den Solarplexus

Viele Jahre später hatte ich eine Lesung in einem kleinen Ort in den Niederlanden. Der Roman handelte vom Krieg in Bosnien-Herzegowina. Er ist auch eine Liebesgeschichte zwischen einem Deutschen und der Tochter eines serbischen Kriegsverbrechers und natürlich schwingt die Frage mit, ob Schuld vererbt wird. Ich wurde nach der Lesung gefragt, ob ich mich als Deutscher schuldig fühlte. Ich sagte: Nein, ich fühle mich nicht schuldig. Aber ich fühle mich verantwortlich. Dafür, dass sich ein solches Verbrechen nicht wiederholt. Dass die Erinnerung daran nicht verblasst. Und dass ich diese Verantwortung sowohl als Deutscher als auch Kroate hätte. Als Türke, Mongole oder Mexikaner wäre es nicht anders.

In meiner Wahrnehmung kann ein Mensch nicht schuldig sein für etwas, das lange vor seiner Geburt stattgefunden hat. Aber er macht sich schuldig, wenn er diesen Teil der Geschichte ignoriert, und Antisemitismus zu tolerieren, ist auch eine Form des Ignorierens. Deswegen ist es die Pflicht eines jeden, besonders auch der Lehrer, klarzumachen, warum es in Deutschland (und anderswo) nicht zumutbar ist, den Holocaust zu rechtfertigen, zu leugnen oder auch nur zu verdrängen; das gilt für alle, die hier leben, auch für diejenigen Migranten, die Israel mit Misstrauen und Feindseligkeit begegnen, weil sie, wie meine libanesische Bekannte, aus Nachbarländern kommen, die unter der israelischen Politik leiden oder gelitten haben.

Es kommt immer wieder vor, dass arabische Kinder an deutschen Schulen jüdische Kinder mobben, weil sie zu Hause eine andere Geschichte über Juden erzählt bekommen, aber auch sie müssen lernen, dass sich Geschichten nicht aufrechnen lassen und die eine die andere nicht rechtfertigt. Und dass die Erinnerung an den Holocaust nicht in Frage gestellt oder getrübt werden darf. Es gibt keinen Schlussstrich, die Verantwortung endet nie, nicht bei mir und auch nicht bei meinen Kindern oder Kindeskindern. Würde sie das, dann trüge ich zumindest eine Mitschuld, weil ich ihnen offenbar die Bedeutung dieser Verantwortung nicht vermitteln konnte und deswegen ist das Erinnertwerden unerlässlich – in der Schule, in Ausstellungen, Büchern, Filmen und in den Familien. Aber dafür braucht es nicht zwangsläufig familiengeschichtliche Bezüge. Sondern Empathie und ein menschliches Gewissen.

Nicol Ljubić wurde 1971 in Zagreb geboren. Er arbeitet als Journalist und schreibt Romane. 2006 erschien Heimatroman oder Wie mein Vater ein Deutscher wurde, sein neuer Roman heißt Ein Mensch brennt (2017; beide DTV)

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