Shein lädt Influencer zur Sweatshop-Tour nach China: Der Preis des Empowerments
Modeindustrie Influencer, die nicht den Schönheitsnormen entsprechen, feiern Fast Fashion als Ausdruck der eigenen Identität. Die umstrittene Modemarke Shein nutzte die Social-Media-Bewegung für eine ungewöhnliche Werbeaktion – jetzt hagelt es Kritik
Versorgt Fashion-Fans regelmäßig mit Stoff: Textilfabrik in Guangzhou, China
Foto: Jade Gao/Kontributor
„Plus-Size Frauen haben es auch verdient, sich schick kleiden zu dürfen“: Diesen Satz hört man in der Diskussion um moralischen Modekonsum häufig. Denn Hersteller, die nachhaltig produzieren, bieten ihre Artikel nur bis zu einer bestimmten – verhältnismäßig kleinen – Größe an. Das schließe dicke Menschen aus, kritisieren Body-Positivity-Aktivisten in den Sozialen Medien. Die Plus-Size-Frau, die nicht gerade einen Kartoffelsack anziehen möchte, habe keine andere Wahl, als auf farbenfrohe Polyesterfetzen zurückzugreifen. Und da es im Kapitalismus keinen ethischen Konsum gibt, ist ohnehin alles irgendwie egal. „Treat yourself!“ ist das Motto, abgesegnet vom allmächtigen Begriff des Empowerments.
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Shein, Fast-Fashion-Gigant aus China und liebste Shopping-Adresse von Teenagerinnen in aller Welt, steht kurz vor dem Börsengang in den USA. Jetzt lud Shein eine Gruppe TikTok-Influencerinnen ein, das neue „Innovation Center“ in China zu besichtigen und mit eigenen Augen zu sehen, wie die Kleidung entsteht. Die Gruppe, bestehend aus Dani Carbonari, Destene Sudduth, Kenya Freeman, Marina Saavedra, Aujené und Fernanda Campuzano, passt perfekt zum Shein-Image: Die Frauen haben unterschiedliche Körpermaße, ihre Hautfarben und Backgrounds ebenso vielfältig. Ähnlich durchmischt sind ihre eigens vergebenen Berufsbezeichnungen: „Confidence Activist“, „Wellness Advocate“, „Lifestyle Influencer“, auch eine Designerin ist dabei. So weit, so gut. Nun stehen die Frauen in einem Kreuzfeuer der Kritik. Fangen wir ganz von vorne an.Auf TikTok ist Shein schon seit langer Zeit omnipräsent. Unzählige „Haul“-Posts, zu Deutsch „Beute“, kursieren auf der Videoplattform: Mädchen und junge Frauen packen teilweise riesige Pakete von Onlinehändlern aus. „Haul“ beschreibt es gut, denn die Schnäppchenjägerinnen präsentieren Unmengen an Textilteilen und probieren sie für ihre Zuschauer an. Die Preise der Teile variieren, vieles ist für eine einstellige Summe erhältlich. Influencerinnen werben für die trendy Crop-Tops und verdienen ihren Teil durch das Hinterlegen von Werbelinks, die dem Konsumenten auf die ohnehin billige Kleidung noch Rabatte geben.Shein veröffentlicht keine Umsatzzahlen, doch der Einfluss auf die Modelandschaft ist auf den Straßen Deutschlands zu erkennen. Die Marktbedeutung von Shein wird mit der vom Billighersteller Primark verglichen, schreibt die „Welt“. Insbesondere die Generation Z scheint auf die unbegrenzten Möglichkeiten, ihre Individualität durch Mode zum Ausdruck zu bringen, zu stehen. Gründer Chris Xu nutzte seinen fachlichen Hintergrund in Suchmaschinenoptimierung, um den algorithmusgetriebenen Online-Mode-Giganten hochzuziehen. Shein verwertet das Konsumentenverhalten in einer Geschwindigkeit, die selbst Branchenriesen wie Zara und H&M alt aussehen lässt: 8000 Artikel kommen täglich neu auf die Shein-Internetseite. Nachdem ermittelt wurde, welches Produkt sich gut verkauft, beginnt erst die eigentliche Massenproduktion – in einer Vielfalt an Styles und Größen.Shein steht seit Monaten in der Kritik. Gründe dafür gibt es genug: dramatisch schlechte Arbeitsbedingungen in den Fabriken, eine enorme Umweltbelastung durch Überproduktion und den algorithmusgetriebenen Konsumreiz, Spuren von toxischen Chemikalien in der Kleidung. 2022 veröffentliche die Schweizer Menschenrechtsorganisation „Public Eye“ einen umfassenden Bericht über die Zustände des Modeunternehmens hinter den glitzernden Kulissen. Im Oktober 2022 erschien die Dokumentation „Inside the Shein Machine: UNTOLD“ und brachte Licht ins Dunkel der fensterlosen chinesischen Sweatshops. Den Fabriken fehlen sämtliche Schutzvorkehrungen, der Arbeitstag beträgt im Schnitt 17 Stunden, einen freien Tag gibt es einmal im Monat.Inzwischen, so munkelt man, steht das Unternehmen vor dem Börsengang in den USA. Es ist also an der Zeit für ein Rebranding für den US-amerikanischen Markt. In der Videoreihe „Shein 101“ („101“ steht für Erstsemesterkurse an amerikanischen Unis), der Schriftzug abgebildet auf einem typisch amerikanischen Schulheft, erlaubt sich das Unternehmen eine Art re-introduction. Es geht um Fragen rund um die Fabriken, Nachhaltigkeit und das Geschäftsmodell.Im Juni lud Shein also die Influencerinnen ein. In diversen Videos aus dem sogenannten Innovationszentrum berichten die Frauen, wie sehr sie das positive Arbeitsklima überrascht habe. „Niemand hat geschwitzt, außer wir, als wir durch die Räumlichkeiten liefen“, so etwa Destene Sudduth. Dani Carboni fasst zusammen: Auf der Suche nach der Wahrheit sei es wichtig, das „Narrativ“, das in den USA über Shein verbreitet werde, zu hinterfragen – insbesondere für eine „unabhängige Denkerin“ wie sie. Von den Frauen erlebte vor allem Dani Carboni nach ihrer Reise enorme Kritik in den sozialen Medien. Die Fans zeigten sich enttäuscht, dass die „Confidence“-Aktivistin auf die PR-Masche eines Megakonzerns reinfällt. Oder sich sogar bezahlen lässt, ein gutes Wort für Shein einzulegen.Die genaue Beziehung zwischen Dani Carboni und Shein bleibt undurchsichtig: In einem Reaktionsvideo nach der Reise verteidigt sich Carboni, sie sei „für gar nichts bezahlt“ worden. In den Videos davor erzählte sie allerdings, Plus-Size-Influencerinnen hätten es grundsätzlich schwerer, angemessen vergütet zu werden – was bei Shein nicht der Fall sei.Generell bezieht sich die Verteidigungslinie der umstrittenen Reise auf (vermeintliche) Identitätsmerkmale der Gäste: Nicht-weiße Frauen, nicht-dünne Frauen, hätten es in der Influencer-Branche nicht einfach, ein Deal mit einer menschenrechtsverletzenden Firma sei daher schwerer auszuschlagen. Ähnliche Argumente gibt es aus Konsumentensicht: Marginalisierte Gruppen seien, so die Verteidiger, gezwungen, billige Kleidung zu kaufen. Auf Kosten von anonymen, weit entfernten Fabrikarbeiterinnen. Ob sie auch pummelig sind und das als sozio-ökonomisch relevantes Identitätsmerkmal sehen? Bei den dokumentierten Arbeitsbedingungen bei Shein dürfte den Frauen dort kaum Zeit für diese Gedanken bleiben.Im April 2022 machte Influencerin Drew Afualo ihre Geschäftsbeziehung mit Shein publik. Afualo, bekannt für ihre bissig-feministischen TikToks, warb für das „SheinX“-Programm, das mit unabhängigen Designern arbeitet. Für die Follower gab es natürlich einen Rabatt-Code. Auf die Kritik, Fast Fashion passe nicht zu ihrer feministischen Botschaft, antwortete Afualo wiederholt, nachhaltige Mode sei nicht für alle zugänglich und „dicke Frauen verdienen es auch, sich schick kleiden zu dürfen.“Ist das so? Haben wir einen Anspruch darauf, uns schick zu kleiden? Wie weit geht dieser Anspruch – schlechte Arbeitsbedingungen und Umweltzerstörung nehmen wir in Kauf, aber bei Größenexklusivität hört der Spaß auf?Der überspitzten Moralisierung des Konsumverhaltens werden oft Identitätsmerkmale entgegengesetzt. Ändert sich also das Ausmaß des Hinnehmbaren, wenn der Konsument nicht-weiß ist? Verkleinert sich das Machtgefälle zwischen Produzenten und Konsumenten, wenn man die Identitätsmerkmale der Beteiligten berücksichtigt und gegeneinander gewichtet? Und überhaupt, ist Dicksein als Identitätsmerkmal das Gleiche wie etwa sozio-ökonomischer Status?Es ist keine Neuheit, dass Großkonzerne das Motto „Gönn dir mal was“ instrumentalisieren. Der Gedanke des Gönnens in einer Burnout-Gesellschaft ist nicht verkehrt. Aber wer damit den reinen Konsum ohne jegliches Hinterfragen meint, hat die Botschaft des Suchens nach schönen Momenten im belastenden Alltag missverstanden – und banalisiert. „Weil wir es uns wert sind“, propagiert L’Oréal Paris seit 1971. Wie viel sind Sie sich wert? Liegt der Wert bei zwanzig bleibehafteten Kleidungsstücken in Größe XXL, für die der Arbeiter etwa fünf Cent erhält?Das Shein-Problem wirft Fragen auf, die unangenehme Selbstreflexion erfordern. Der Wunsch, sein Inneres äußerlich, auch durch Kleidung, zum Ausdruck zu bringen, ist zutiefst menschlich. Die Grenze zur Eitelkeit muss jeder selbst bestimmen. Und für manche die Suche nach dem eigenen Stil weniger einfach – sei es aufgrund ihres ausgefallenen Geschmacks oder eben ihrer Körpergröße. Shein bietet Erleichterung in Form einer riesigen Auswahl und erschwinglichen Preisen.Der zeitgenössische Twist zur philosophischen Stilfrage bleibt: Wie viel kollektives Leid sind wir bereit hinzunehmen, um den individuellen Ausdruck zu gewährleisten? Die Rolle, die Influencer dabei einnehmen, ist fast schon nebensächlich. Aber auch nur fast, denn ihr Einfluss auf das Konsumverhalten ihrer Followerschaft bedeutet auch eine besondere soziale Verantwortung.Dani Carboni meint, sich dieser sozialen Verantwortung bewusst zu sein: In einem Instagram-Video verteidigt sie zwar ihre Entscheidung, mit Shein zusammenzuarbeiten, nimmt sich allerdings vor, in Zukunft gründlicher zu recherchieren. Die Reaktionen ihrer Follower blieben gnadenlos. Einige Tage später verkündet Carboni in einem zweiten Video das Ende ihrer Geschäftsbeziehung mit Shein.Ihre Follower scheinen also eine Grenze für sich bestimmt zu haben: Empowerment durch Mode, durchaus. Aber nicht zu diesem Preis.