Takt der Befreiung

Film Regisseur Xavier Dolan zeigt einen Jungen mit ADHS, der zu den Hits der 90er Jahre austickt. So ist „Mommy“ auch drauf
Ausgabe 46/2014

Viel Schreierei, Schimpfworte und Schläge. Steve ist 15 und sieht aus wie Macaulay Culkin in seinen besten Jahren, blond und engelsgleich, zeigt aber Probleme mit der Impulskontrolle. Im Jugendheim hat er die Cafeteria in Brand gesteckt, jetzt holt ihn seine Mutter Diane wieder zu sich. Diane sieht aus wie eine Rummelplatzqueen aus dem Ruhrgebiet, viel Strass und Glitzer, hautenge Jeans und blonde Strähnchen im brünetten Haarschopf. Steves Entlassungspapiere im Jugendheim unterzeichnet sie mit dem eigenen Kugelschreiber, der an einem Schlüsselbund voller Plunder hängt. Die kleinen Figürchen klappern laut, als Diane sorgfältig ein Herzchen über das i in ihrem Namen malt.

Steve hat ADHS, und der Film hat auch ein bisschen ADHS. Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung. Ständig fängt er neue Erzählstränge an, häuft Ereignismaterial für zehn Filme an – einen Autounfall, eine ruinöse Schadenersatzklage, eine Barprügelei mit abgebrochenem Flaschenhals, einen Suizidversuch im Supermarkt –, und es folgt jedes Mal: gar nichts. Viel mehr als an seinen diversen Erzählfragmenten ist Mommy von Xavier Dolan an der Produktion allumfassender Melodramatik interessiert, an wilden Gefühlen und großen Gesten, die schön anzusehen und gefällig ins Bild gesetzt sind (die Farben!), aber einem höchst einfach gedachten Gegenspiel von Einsperrung und Befreiung entspringen.

Einsperrung, das sind die Disziplinarinstitutionen, die Steve durchläuft, das ist die Zwangsjacke, die er tragen muss. Das sind aber auch die Bildkader, die im ungewöhnlichen, fast quadratischen 5:4-Format gehalten sind und die Figuren des Films isolieren, gefangen nehmen. Einsperrung ist auch die schwere Sprachstörung von Dianes und Steves Freundin Kyla, die sie stottern und schmerzhaft um jedes Wort ringen lässt.

Krankenhaus, um 1900

Steves Gewaltausbrüche begreift der Film im Gegensatz dazu als ein Spektakel, an dem es sich immer wieder zu weiden gilt, als Gelegenheit, den Gefühlsausbruch als Befreiung zu zelebrieren. Das kulminiert in einer unsäglichen Montagesequenz, die bei der Premiere in Cannes für spontanen Szenenapplaus gesorgt haben soll, mich dagegen extrem peinlich berührt hat. Sie zeigt Steve, wie er selbstvergessen auf seinem Longboard durch Vorstadtstraßen jagt, die Sonne strahlt, der Himmel ist tiefblau, und von der Tonspur scheppert Oasis: „Tooo-DAY is gonna be the DAY ...“ Auf einem leeren Parkplatz tollt Steve lebenslustig herum und tanzt einen wilden Pas de deux mit Einkaufswagen, er räkelt sich und streckt die Arme, bis sich im Befreiungsrausch der enge Bildkader öffnet und weitet.

Wie unbedarft das ist, was Dolan zum Thema Transgression einfällt, zeigt ein Vergleich mit Harmony Korine. Genau wie Dolan umwehte Korine, der seine Karriere 1995 als 22-Jähriger mit dem Drehbuch für Kids begann, der Ruf, ein Wunderkind zu sein. Und Korines letzter Film Spring Breakers (2012) hat ähnlich gelagerte Interessen wie Mommy: die Vorliebe für Trash und billig konfektionierten Mainstreampop, die intensiv leuchtende Farbigkeit und Musikalität der Bilder, und nicht zuletzt: die Frage der Überschreitung. Aber wo Spring Breakers nachdenkt über die Möglichkeit von Überschreitung in Zeiten und Gesellschaften, die die Transgression längst institutionalisiert und normativ haben werden lassen, erschöpft sich Mommy in einem grobklotzig gedachten Verhältnis von Einsperrung und Befreiung, das reine Repressionshypothese und purer Anachronismus ist. Deshalb endet der Film auf einer Krankenstation, die wie die Karikatur einer Psychiatrie von 1900 aussieht. Mit einer wie auch immer gearteten Gegenwart hat das natürlich nichts zu tun.

Es gibt noch einen weiteren, diesmal bewusst und absichtlich in Szene gesetzten Anachronismus in Mommy. Sein großes Vorbild, sagt Dolan, sei James Camerons Titanic von 1997 gewesen, und aus dieser Zeit stammt auch die Popmusik, mit der Mommy unterlegt oder vielmehr überzogen ist: Celine Dion, Sarah McLachlan, die Counting Crows, Oasis. Alles sehr Mainstream, alles sehr nichtraffiniert – in keiner Weise distinktionstauglich. So versucht sich Mommy an einer Verschiebung von Geschmacksparametern, die ihren Schwerpunkt in den späten 90er Jahren findet, und bricht dabei mit allen Geboten des guten Geschmacks. Ein bisschen pubertär wirkt das schon. Vielleicht ist es auch Nostalgie.

Mommy Xavier Dolan Kanada 2014, 139 Min.

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