Und Volk ist deutsch

Wahlrecht Natürlich bauen wir am europäischen Haus, man hat ja nichts gegen Ausländer. Aber ein Unterschied zwischen deutsch und fremd muss schon bleiben
Ausgabe 45/2015

Alle Macht geht vom Volke aus. Und Volk ist deutsch. Jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland hat das so zu sein. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entschied, Ausländerwahlrecht bei Kommunalwahlen sei verfassungswidrig. Hatten doch die SPD-Regierungen in Schleswig-Holstein und Hamburg versucht, das Wahlrecht auf Nichtdeutsche, die fünf oder acht Jahre in den Kommunen ansässig sind, auszudehnen. Die Entscheidung, dass mit Volk eben nur deutsches Volk gemeint sein kann, fand die erleichterte Zustimmung der CDU-CSU-Fraktion und der bayerischen Staatsregierung, die in Karlsruhe geklagt hatten. Das Gespenst der Fremdbestimmung sei damit gebannt, meinte der Geschäftsführer der Unionsfraktion, Herr Friedrich Bohl. Die Angst vor Gespenstern sitzt eben tief. Ging da nicht neulich eines in Europa um? Da muss man schon aufpassen. Überhaupt Europa.

Natürlich bauen wir am europäischen Haus. Natürlich redet der Kanzler vom europäischen Einigungsprozess, aber das kann doch nicht so weit gehen, dass artfremde Personen, Ausländer sozusagen, bei uns mitbestimmen dürfen. Arbeiten können sie. Restaurants sollen sie in Gottes Namen eröffnen, wenn es schmeckt, was sie kochen. Volkstänze dürfen sie vorführen, schließlich sind wir eine multikulturelle Gesellschaft. Aber es reicht doch, dass ihre Kinder unsere deutschen Schulen verstopfen. Man hat ja nichts gegen Ausländer, aber ein Unterschied zwischen deutsch und fremd muss schon bleiben.

Armes Deutschland. Ein paar Wochen ist es erst her, da saß ich vorm Fernseher und schämte mich, als die sogenannte Volkskammer in ein paar Minuten das Wahlrecht für Ausländer mit Mehrheit abschmetterte. Satte, zufriedene Gesichter, als das Ergebnis ausgezählt wurde. Dabei wäre es ein gutes Zeichen gewesen, wenn die DDR kurz vor ihrem Ende durch ein solches Gesetz ihren Willen zum menschlichen Miteinander, zum Abschied von Provinzialität und Enge bekundet hätte. Aber die Deutschen scheinen sich wieder einmal selbst zu genügen, und die Karlsruher Richter bestätigen nur, was viele ohnehin meinen: Wenn Ausländer schon herkommen, sollen sie wenigstens deutsch werden. Ihr Anderssein stört. Dabei kann ein Deutscher in Irland oder Dänemark leben und dort durchaus seinen Bürgermeister wählen.

Ich denke an meine Freunde, die nicht zum auserwählten Volk der Deutschen (oder nennt man das Herrenrasse oder wie) gehören und trotzdem hier leben. Da ist Jorge aus Chile. Er floh 1973 vor dem Tod, kam hierher, für ein paar Monate, wie er glaubte. Dann fand er eine deutsche Frau, sie haben Kinder. Der Sohn ist behindert, geht in eine Sonderschule. Jorge stand lange auf einer schwarzen Liste Pinochets. Als er endlich zurückgekonnt hätte, war hier sein Zuhause. Und die Kinder würden darunter leiden, wenn sie, wie damals ihr Vater, die Freunde, die Verwandten, die Heimat verlassen müssten. Also bleibt Jorge. Er will kein Deutscher werden, er ist kein Deutscher. Aber siebzehn Jahre hat er unter uns gelebt, unsere Wut, unsere Resignation, unser Aufbegehren, unsere Hoffnung, unsere Enttäuschung geteilt. Kein Wahlrecht für Jorge. Und Momi, der promovierte Soziologe aus dem Iran ‚ muss ich Gründe nennen, warum nicht in seiner Heimat leben kann? Er verkauft Schreibwaren in Schöneberg, lebt sein halbes Leben lang in Deutschland, ohne ein Deutscher zu sein. Mit den Jahren ist er schweigsam geworden. Dabei hätte er so vieles zu sagen, wenn ihn nur jemand fragen würde. Warum ist er ausgeschlossen von dem Recht, über die Angelegenheiten seiner Kommune mitzubestimmen, in der er wie jeder andere lebt?

Berlins Bürgermeister Momper, der die Karlsruher Entscheidung bedauerte, geht davon aus, dass sich die Rechtsverhältnisse auch in Deutschland im Zuge der europäischen Entwicklung verändern werden.

Davon ausgehen kann man nicht, fürchte ich, aber auf diese Veränderung zugehen müssen wir.

Dieser Text erschien am 9. November 1990 in der ersten Ausgabe des Freitag

Jetzt schnell sein!

der Freitag digital im Probeabo - für kurze Zeit nur € 2 für 2 Monate!

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden