Prousterien: Die Zuschreibungen von Madeleine-Effekt bis Annie Ernaux
Do it like Marcel Proust starb vor 100 Jahren, seither wurden er und sein Werk zur mitunter schrägen Metapher. Hirnforschende haben den „Madeleine-Effekt“ gefunden – wer schreibt, wird schnell der nächste Proust. Gilt das auch für alle, die im Bett arbeiten?
Automobil Es muss ein Landaulet Renault AG gewesen sein. Marcel Proust wird 1907 mit so einem kutschenähnlichen Automobil aus Paris über Land zu seinen Eltern chauffiert. Alfred Agostinelli, sein „Mechaniker“, muss sich in einen „weiten Gummimantel“ hüllen, denn sein rollender Arbeitsplatz ist Wind und Regen ausgesetzt. Der Fahrgast sitzt geschützt im Fond. Schaut aus dem Fenster und verfasst im Kopf seinen Essay, der kurz danach im Le Figaro veröffentlicht wird. Proust geht es wie Heinrich Heine 64 Jahre vorher mit der Eisenbahn auf der Strecke Paris–Rouen. Er erlebt eine neue Art der Wahrnehmung der Welt (➝ Bett).„Alte, wackelige Häuser“ kommen auf ihn zu und eilen vorbei. Der Renault AG-1 wird 1914 als ̶
. Der Renault AG-1 wird 1914 als „Taxi de la Marne“ berühmt. Mit den requirierten Kisten werden Rekruten aus Paris an die Marne-Front des ersten motorisierten Kriegs der Geschichte gekarrt. Michael SuckowBBett Ein Vorteil des Homeoffice, der zu selten erwähnt wird, ist die individuelle Wahl des Arbeitsplatzes. Und dabei übertrifft rein gar nichts die Gemütlichkeit des Betts. Warm eingekuschelt mit Laptop auf dem Schoß wird die Arbeit zur Entspannung. In der Energiekrise hat das gleich mehrere Vorteile: warm halten mit Decke statt Heizung. Dass man dabei auch keineswegs unproduktiv werden muss, hat Marcel Proust gezeigt: Die gigantische À la recherche du temps perdu ist auf diese Weise entstanden – 5.000 Seiten der bedeutendsten Literatur des 19. Jahrhunderts! Wer im Liegen arbeitet, bezeichnet die Praktik stolz als „Prousting“. Leider hat „prousten“ einen zeitlich stark begrenzten Gemütlichkeitswert von nur wenigen Stunden. Matratzen sind eben nicht zum Arbeiten gedacht und der Körper wehrt sich gegen die unnatürliche Haltung. Bei immer neuen abstrusen Verrenkungen muss man sich eingestehen: Mit dem Autor kann man es nicht aufnehmen. Ein Glück, dass das Homeoffice auch einen Schreibtisch hat. Alina SahaCComic Ersetzt man In Swanns Welt durch Schatten über Akbar, Marcel durch Bragon und Mädchenblüte durch Mara, landet man ratzfatz bei einer ganz anderen als der Proust’schen Zeitreise. Auch im Comic-Epos Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit – der Titel kann kein Zufall sein – geht es um zerrinnende Zeit, Aufwachsen, Erinnern und Vergessen. Nur nicht in dieser Welt, sondern im fernen Akbar. Über zwei Zyklen in insgesamt elf Bänden breitet sich die Fantasy-Serie aus, die in den Achtzigern ein Riesenerfolg war und gerade wieder neu aufgelegt wurde. Autor Serge Le Tendre und Zeichner Régis Loisel, die sich mit Sicherheit lose von ihrem Landesgenossen Proust inspirieren ließen, erhielten dadurch internationale Aufmerksamkeit. Im Zentrum des ersten Teils steht die „Quest“ einer Clique um den alternden Ritter Bragon und seine Tochter. Um einen rachsüchtigen Gott aus der Vergangenheit zu bannen, müssen sie die Zeit anhalten – und dafür den Vogel finden. Im zweiten Teil geht es um den jungen Bragon und es wird erzählt, wie er einer Amour fou entflieht und die Kriegerausbildung absolviert. Der Comic ist in seiner Opulenz und Erzählweise längst zum Klassiker der grafischen Literatur avanciert, die Originalausgabe wird unter Sammlern hoch gehandelt. Tobias PrüwerHHandwaschszene Wirkliche Proustgelesenhabende, die es wirklich gibt, zücken gern eine Erinnerungs-Perle nach der anderen. Doch keine dürfte von einer einzigen Szene durch den gesamten Proust „getrieben“ worden sein, wie Klara von sich sagt, in Erinnerung an die Fünfzigerjahre der DDR: Während die Freunde sich an die bangen Nächte am Radio, an die Niederschlagung des Aufstands in Ungarn erinnern, erzählt sie von der für sie Schlüsselszene, in der Marcel „seine zarten, wächsernen Finger“ ins lauwarm seifenduftende Wasser taucht. Sodann von weiteren, gar der, als der Kutscher von Swann und Odette fatalerweise die Hände nicht hat waschen können. Daran erinnert sich Hermann Funk in Marcel Beyers fulminantem Roman Kaltenburg (2008), aber auch, dass Klara ihm später sagte, nicht eine dieser Szenen fände sich im Roman. Erhard SchützIIntellektualitätshuberei Ulysses im Regal, Proust auf der Lippe: Wie mit James Joyce schmücken sich Menschen mit Proust als belesene Feingeister. Sie frönen so der Intellektualitätshuberei, obwohl oder gerade weil sie ihn nie gelesen haben (➝ Handwaschszene). Man müsste sonst eingestehen, sich endlos lang durch die Lektüre gequält zu haben. Das geht aber nicht, weil so viele andere begeisterte Leser mimen, es aber auch nicht besser wissen. Auf diese Weise entsteht ein Zirkel intellektueller Selbstbestätigung. Tilo PrüwerKKreuzung Vor einigen Jahren hat Jochen Schmidt ein wunderbares Buch veröffentlicht: Schmidt liest Proust. Darin bezeugt er dem Schriftsteller seinen Respekt, nimmt ihn aber dennoch ungeniert in seinen Alltag mit. Jeden Tag hat er sich 20 Seiten Lektüre auferlegt, dann fasst er zusammen. Heraus kommt dabei etwas ganz Eigenes zwischen genervt und entzückt. Oft wechseln die Orte, an denen er das Buch aufschlägt. Er kommt weit rum. Die „Suche“ des großen Franzosen kommt zusammen mit der Suche des deutschen Autors. Schmidts Proust-Lektüre ist keine verlorene Zeit. Für alle, die sich bei Proust wie auf einer Schöngeisterbahn fühlen (➝ Intellektualitäshuberei) und doch verstehen wollen, was ihn so groß macht. Magda GeislerMMadeleine-Effekt Dass Duft- und Geschmackserlebnisse Erinnerungen wecken können, hängt mit dem Limbischen System zusammen, wie Hirnforscher erklären. Diesen Effekt nach einer Schlüsselszene in Prousts Roman zu benennen, war originell und sorgte für Aufmerksamkeit. Bekanntlich bringt solch ein Kuchenstück in Form einer Muschel den Ich-Erzähler auf eine Erinnerungsspur nach Combray, in den Ort seiner Kindheit. Durchfroren war er nach Hause gekommen, und die Mutter hatte ihm einen Lindenblütentee serviert. Wie er einen Löffel davon mit einem aufgeweichten Stück Madeleine an die Lippen führte, fühlte er sich plötzlich nicht mehr so „mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich“ wie bisher. Hat eine Köchin namens Madeleine im 18. Jahrhundert am Hof des Herzogs von Lothringen etwa ein Glücksrezept gefunden? Schön wär’s, aber leider unwiederholbar. Leuchtende Augenblicke muss man sich selber suchen. Sie für sich festzuhalten, hat mit Lebenskunst zu tun (➝ Paging Mr. Proust). Irmtraud GutschkePPaging Mr. Proust 1985, da sprangen die Jayhawks in Minneapolis aus dem Ei. Das Debüt kaufte kaum einer, doch die Gruppe machte weiter. Noch heute sind sie eine Band für Menschen, die gern die frühen R.E.M. hören. Peter Buck von R.E.M. hat auch ihr 2016 erschienenes Album Paging Mr. Proust mitproduziert: eine uramerikanische Mischung aus Alternative-Country, College-Pop und Folk.Wovon dieses Album handelt: Heute geht alles viel zu schnell. Womit wir bei Proust wären, dem Gewährsmann für alles, was nach Entschleunigung, Tagträumerei, nach der Aufhebung von Zeit klingt. Es gibt sogar einen Ratgeber, der uns erklärt, wie Proust unser Leben ändern kann. „Wie man sich Zeit nimmt“, heißt ein Kapitel (➝ Madeleine-Effekt).Gary Louris, Sänger und Gitarrist der Jayhawks, sagt, er mag „die Dichte von David Foster Wallace, seinen Humor. Es hat so viele Details, deshalb mag ich auch Proust. (…) Ich mag Leute, die sich die Mühe machen, sich in ein Thema zu vertiefen – oder zehn. Ich mag kluges, aber auch ein wenig weises Schreiben.“ Marc PeschkeVVorabend Wenn das Werk eines Schriftstellers die Erinnerung zum Thema macht, löst das vornehmlich bei Kritikern eine Art Pawlow’schen Reflex aus. Dann läutet bei ihnen (auch bei mir) ein Glöckchen, das keinen Fress-, sondern eben den Proustreflex nach folgendem Muster auslöst: Erinnerung? – Bing! – Proust! Das musste auch Peter Kurzeck erfahren, der aufgrund der Erinnerungssuaden des Erzählers in der auf zwölf Bände angelegten Chronik Das alte Jahrhundert als „Proust der Bundesrepublik“ oder „hessischer Proust“ bezeichnet wurde (➝ Weiblicher Proust). Obwohl die Erinnerung darin eine zentrale Rolle spielt, mutet der Vergleich bei näherem Hinsehen an, als würde man Leberwurst, und nichts gegen Leberwurst, mit Foie gras vergleichen.Kurzeck vermisst nicht die Pariser Gesellschaft, sondern das Spontimilieu des Frankfurter Stadtteils Bockenheim in den 1980ern bzw. das bäuerliche und Arbeitermilieu des oberhessischen Staufenbergs. Kurzeck, bemerkt der Literaturwissenschaftler Christian Riedel, rächte sich im fünften Band der Chronik mit feiner Ironie an diesem Vergleich: Im Verlauf des Romans Vorabend futtern der Erzähler und seine Tochter unentwegt Madeleines, bis sie weg sind: „Jetzt, sagt Pascale, haben wir alle Madeleines aufgegessen! Auf dem Küchenschrank noch drei Packungen, sagt Jürgen. Nein, sagt Pascale, die auch schon mit! Hintereinander achtundvierzig Madeleines, Carina und ich. (…) Achtundvierzig Madeleines in kaum vierzig Minuten.“ Beate Tröger WWeiblicher Proust Annie Ernaux ist, laut Spiegel, Frankfurter Rundschau, Stern usw., „der weibliche Proust“. Beinahe inflationär wird die französische Literaturkönigin als solcher bezeichnet, vor allen Dingen seit sie den Nobelpreis bekam. Warum? Weil sie auf ihr Leben schaut, auf ihre Herkunft, weil sie sich erinnert? An den unendlichen „Details“ kann es eher nicht liegen. Annie Ernaux erzählt karg, in nüchterner Sprache, nicht blumenhaft wie Proust. Ihre Bände sind schmal. Auch der Norweger Karl Ove Knausgård wird, dank autobiografischer Romane, als „neuer Proust“ bezeichnet, also als der männliche Erbe (➝ Vorabend). Weil er seine Kindheit, Jugend beschreibt, er will „damit die Zeit zu fassen bekommen“. Er habe die Recherche von Proust verschlungen, sagt Knausgård – aber anders als bei Annie Ernaux passt hier der Vergleich: Knausgård breitet in mehreren Büchern auf vielen Hunderten Seiten aus, was das Material seines Leben ist, unendliche Details und Szenen, wie Angelnfahren mit dem Vater. Maxi Leinkauf ZZigarettenrauch Seit 1951 sind Meckis gezeichnete Abenteuer fester Bestandteil der Programmzeitschrift Hörzu. Als kleiner Junge, Mitte der 60er Jahre, liebte ich den vermenschlichten Igel. „Micky Maus“ war verboten, „Fix und Foxi“ auch. Bildergeschichten seien schädlich für die Sprachentwicklung, erzählte die Lehrerin. Aber auch Mecki war nur auf Umwegen zu ergattern.Die Familie sparte sich das Geld für eine Fernsehzeitschrift. Anders das stark rauchende, kinderlose Ehepaar im Obergeschoss. Dort durfte ich mir regelmäßig die nach Zigarettenrauch müffelnde Comicseite abholen. Und noch heute weckt Gedrucktes aus Raucherbesitz den kindlichen Leser im mittlerweile älteren Herrn. Joachim Feldmann
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