Was Grass über Kohl dachte

Briefwechsel Die Schreiben von Günter Grass an Willy Brandt zeigen, welchen Respekt der Literatur-Nobelpreisträger vor dem späteren Bundeskanzler Helmut Kohl hatte
Ausgabe 20/2013
Was Grass über Kohl dachte

Foto: dpa

Der Backstein von tausend Seiten, der mit dem Titel „Der Briefwechsel“ daherkommt, enthält etwa zu fünf Prozent Briefe von Willy Brandt, zu 40 Prozent solche von Günter Grass, und den Rest bilden Dokumente, Reden und Briefe von Zwergen aus der Umgebung der beiden Nobelpreisträger.

Richtig müsste der Titel lauten: „Ein Parteisoldat erstattet Meldung“, denn genau das tut der Dichter in vielen seiner Briefe in den sechziger und siebziger Jahren. Dabei war Grass damals noch gar kein SPD-Mitglied. Aber er wollte, wie er später an Klaus Harprecht schrieb, eine politische Karriere machen. Etwa wie André Malraux bei Charles de Gaulle. Brandt reagierte zurückhaltend.

Das alles ist von historischem Interesse, wenn auch nur selten auf der Höhe der intellektuellen Möglichkeiten beider Protagonisten. Einmal jedoch blitzt das Wahrnehmungsgenie des „Blechtrommel“-Autors auf, das späterhin bestätigt werden sollte durch die Haltung des ersten sozialdemokratischen Kanzlers der Bundesrepublik.

Kohl war "aufmerksam und gesprächsbereit"

Am 22. September 1972 schreibt Grass: „Ich beginne mit einer Impression, die uns (Eberhard Jäckel, Norbert Gansel, Veronika Schröter) gestern recht nachdenklich gemacht hat. Wir sahen das Doppelinterview: Gaus mit Barzel und Kohl.“ Was macht die Runde nachdenklich? „Den stärksten Eindruck auf uns alle machte Kohl. Auf sympathische Weise gab er bestimmt und ohne die in Bonn üblichen Ich-möchte-sagen-Formulierungen Auskunft über seinen politischen Standort“. Und: „Wo Barzel glatt und routiniert wie gewohnt wirkte, war Kohl aufmerksam und gesprächsbereit.“

Wer diese Sätze richtig einschätzen will, muss wissen, dass Kohl damals und noch auf Jahre hinaus in weiten Teilen der sozial-liberal gestimmten Öffentlichkeit als der Depp vom Dienst galt. Zwar wussten politische Beobachter, dass er in Rheinland-Pfalz beachtliche politische Reformen durchgesetzt hatte, dass sein Landeskabinett brillant besetzt war, dass er nicht von ungefähr als Ministerpräsident die absolute Mehrheit erreicht hatte. Aber das half ihm auf Bundesebene nicht viel. Besonders Helmut Schmidt, als er Kanzler geworden war, machte ihn mit beispielloser Arroganz erbarmungslos als provinziell nieder, wobei er schon in der Sprache das klare Hamburgische vorteilhaft gegen das oft unbeholfen wirkende Pfälzische zu Gehör brachte.

Brandt hatte stets Respekt vor Kohl. Dass Grass, der in den Briefen sonst an der Union kein gutes Haar lässt, vor Kohl zurückzuckt, bestätigt nicht nur dessen Rang, sondern auch, dass er, was das Gespür für Begabungen anging, mit Brandt übereinstimmte.

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