Wenn die Dinge zornig werden

Erzählband Martin Lechner wirft einen Blick in die grotesken, bedrohlichen Abgründe des Alltags
Ausgabe 32/2016

Mit Kleine Kassa legte Martin Lechner 2014 einen virtuosen Debütroman vor. Er schickte einen modernen Simplicissimus auf einen Hindernisparcours durch seine Heimatstadt Lüneburg, wobei die hyperbolische Sprache in dem naiv-klugen Protagonisten stets ein Zentrum hatte, alle narrativen Fäden liefen dort zusammen. Auf einen solchen identifikatorischen Anhalt muss der Leser in seinem neuen Erzählungsband Nach fünfhundertzwanzig Weltmeertagen verzichten. Trägt und bewegt Lechners rhythmische Sprache, die gleichermaßen von Verdichtung wie von arabesker Verzweigung lebt, auch kurze Texte?

Der Autor entwirft Experimentier-Anordnungen, Un-Fälle zwischen Menschen, zwischen Menschen und Dingen. Der Leser steht vor einer Absperrung. Er weiß: Dies ist ein Tatort. Oder eine Parade von Freaks. Es treten auf: ein lebensmüder See, der sich durch den Fund eines abgetrennten Kopfs in einem Koffer nun wieder etwas animiert fühlt, ein Duschvorhang, der um aktive Sterbehilfe bittet, bevor ihn der Schimmel überzieht, eine Socke, ein Ohr, ein abgetrennter Finger, ein Knie, ein Fuchs, eine Schraube, verschiedenste Städte, diese und jene Menschen auch. Es ist sicher keine Etikettierung, wenn man diese Erzählungen im Genre der Groteske verordnet.

Tatsächlich zieht sich das Thema der Höhlen-, Grotten- und Abgrundgeschichten durch den ganzen Band. In der ersten Erzählung Mainz bemerkt ein Hotelbesucher „eine leichte Kuhle in der Mitte des Empfangsteppichs“, die ein „menschengroßes Loch anzudeuten“ schien. In Der Schacht erweitert sich die „Kuhle“ zu einem Abgrund, einem Krater gleich hinter der Hausschwelle, der das Haus unbewohnbar macht und den Eigentümer zu der Frage verleitet, „ob er sich nicht kopfüber in die Schwärze stürzen“ sollte. In Feierabend findet ein Pendler in der Zugtoilette einen Zugang zu einem Keller, der aus wildem, offenem Fleisch besteht, das ihn zu verschlingen droht.

Immer wenn Menschen sich fallen oder gehen lassen, wenn sie sich erlauben, nicht zu funktionieren, tut sich ihnen eine groteske, bedrohliche Abgründigkeit auf. Grotesken haben vordergründig einen hohen Unterhaltungswert. Lechner aber stärkt das analytische Moment. Und zwar im wörtlichen Sinn: Er zergliedert, zerlegt. Der Blick schärft sich für das, was sich im Alltäglichen verrenkt, entfremdet, deformiert. Wenn die isolierten Dinge zu sprechen beginnen, erzählen die Geschichten zweierlei. Zum einen, wie müde, verzweifelt und zornig die Dinge in der Menschenwelt geworden sind. Zum anderen spiegeln sie unser Selbstverhältnis.

Ästhetik des Trickfilms

Lechner erzählt Missbrauchsgeschichten. Das Abgründige baut keinen Sinn für Erhabenes auf, das Hässliche provoziert nicht. Der Untergang taugt nicht, um Furcht und Schrecken zu erregen, die Katharsis ist perdu. Es geht einfach weiter: Ein Selbstmord in Schulzeit: „Ach nein, die Kugel jagte ihm bloß durch die Frisur, und er lebte noch Jahrzehnte dumm dahin.“ Was den ganzen Kuddelmuddel zusammenhält, ist Lechners Sprache. Sie bindet, was sie selbst trennt. Das analytische wird durch das stilistische Moment aufgefangen. Die Genauigkeit, die sich in der Sparsamkeit zeigt, qualifiziert auch die übermütigen Texte. Zuweilen aber verliert sie sich, kippt das Virtuose ins Verspielte.

Das erinnert dann an die Ästhetik eines Trickfilms. Da liegt der dicke Mann plattgewalzt auf der Straße, springt im nächsten Augenblick wieder auf, und weiter geht’s: Keiner lernt etwas, die Eskapaden bleiben folgenlos. Aber vielleicht ist auch dies der Spiegel des Zeitgeists. Man denke etwa an die Börsenberichterstattung nach den Attentaten in Paris. Dort hieß es: „Wir lassen uns nicht beirren, wir machen weiter!“ Wie soll man da nicht ins Fach der Groteske greifen?

Info

Nach fünfhundertzwanzig Weltmeertagen Martin Lechner Residenz 2016, 192 S., 19,90 €

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