Auf wackliger Rechtsgrundlage

Amtsgericht München Generalstaatsanwaltschaft München ließ im Zusammenhang mit der „Letzten Generation“ auch bei Nicht-Beschuldigten Durchsuchungen durchführen

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Vor rund drei Wochen ließ die Münchener Generalstaatsanwaltschaft (GStA) in sie­ben Bundesländern Haussuchungen vornehmen, weil sie den Verdacht hat, die für den Klimaschutz aktive „Letzte Generation“ sei eine Kriminelle Vereinigung und auch von Nicht-Mitgliedern unterstützt worden. Die GStA teilte damals dazu mit: „Im Rah­men dieses Verfahrens durchsuchen heute Beamte der Generalstaatsanwaltschaft München, des Bayerischen Landeskriminalamtes (BLKA) und weiterer Bundesländer 15 Objekte im gesamten Bundesgebiet.“

Erst auf Nachfrage rückte die GStA am Dienstag der vergangenen mit der ergänzenden Information heraus: „zehn Beschlüsse [wurden] gemäß § 102 StPO bei Beschuldigten und fünf Beschlüsse gemäß § 103 StPO bei Dritten vollzogen“.

Konkret dürfte es im vorliegenden Fall um § 103 Absatz 1 Satz 1 Strafprozeßordnung (StPO)1 gehen. Dieser sieht zwar in der Tat die Möglichkeit von Durchsuchungen bei Nicht-Beschuldigten vor, knüpft daran aber strengere Bedingun­gen als § 102 StPO.

Inzwischen habe ich vom Amtsgericht München auch einen der fünf § 103-Durchsu­chungbeschlüsse in anonymisierter Form erhalten. Nach Angaben des Amtsgerichts sind die anderen ergangenen Beschlüsse gemäß § 103 StPO grundsätzlich inhalts­gleich.

Der mir übersandte Durchsuchungsbeschluß wirft – auch unabhängig von der Frage, ob ein Anfangsverdacht, die „Letzte Generation“ sei eine Kriminelle Vereinigung, zu­recht bejaht wurde (siehe zu diesem Problem unten im Abschnitt „Kaum Unterschiede zu dem Durchsuchungsbeschluß für die Beschuldigten“) – erhebliche Zweifel auf, ob er den strengeren Anforderungen des § 103 StPO gerecht wird, wie im folgen­den gezeigt wird.

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Gliederung:

Durchsuchung bei Beschuldigten (§ 102 StPO) versus Durchsuchung bei anderen Personen (§ 103 StPO)

bestimmte Gegenstände“

Für Durchsuchungen bei Nicht-Beschuldigten gelten „besondere Anforderungen an die Prüfung der Verhältnismäßigkeit“

Bundesverfassungsgericht: „Anforderungen an die Prüfung der Verhältnismäßigkeit“ im Falle von Durchsuchungen bei Nicht-Beschuldigten

Meyer-Goßner/Schmitt sowie BGH: Potentieller Vorrang der Aufforderung zur Herausgabe (§ 95 StPO) vor einer Durchsuchung (§ 103 StPO)

Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung: Vorrang des Herausgabeverlangens immer dann, wenn eine Kooperationsverweigerung nicht vorab absehbar ist

Landgericht Köln: Nur bei Anhaltspunkten für die Entziehung von der Mitwirkungspflicht darf ein Durchsuchungsbeschluß Nicht-Beschuldigte erlassen werden

Landgericht Kaiserslautern: Im Falle von Nicht-Beschludigten „regelmäßig[er]“ Vorrang der Aufforderung zur Herausgabe vor der Durchsuchung

Landgericht Saarbrücken: Vorrang des § 95 jedenfalls dann, wenn auf Seiten des Nicht-Beschuldigten u.a. kein Verdunkelungsinteresse zu befürchten ist

Landgericht Limburg: In aller Regel muß einE Nicht-BeschuldigteR zunächst zu einer freiwilligen Herausgabe des gesuchten Beweismittels aufgefordert werden

Landgericht Braunschweig: Aufforderung erst unmittelbar vor der bevorstehenden Vollstreckung der Durchsuchungsanordnung genügt nicht

Wasser im Wein: Im „ersten Zugriff“ wird regelmäßig § 103 (und nicht § 95) StPO angewendet

Bezug der durchsuchten Räume und Sachen zum Ermittlungsverfahren

Tatsachen […], aus denen zu schließen ist, daß die gesuchte Person, Spur oder Sache sich in den zu durchsuchenden Räumen befindet“

Kaum Unterschiede zu dem Durchsuchungsbeschluß für die Beschuldigten

Fraglichkeit, ob die zu suchenden Gegenstände hinreichend bestimmt bezeichnet wurden

Unklarheit der Tatsachen, aus denen zu schließen soll, daß die gesuchten Gegenstände bei den Nicht-Beschuldigten zu finden sind

Keine Verhältnismäßigkeitsprüfung, die den Anforderungen des BVerfG gerecht wird

Antworten des Amtsgerichts München auf Fragen nach dem Umfang der vorgenommenen Anonymisierungen

Stellungnahme der Partei Die Urbane.

Zitierte Kommentare zur Strafprozeßordnung

Anhang:

‚Erheblichkeit‘ der Straftaten, um die es im Zusammenhang mit § 129 StGB geht

Beschluß des Landgerichts Berlin vom 31.05.2023 zum Aktenzeichen 502 Qs 138/22, S. 2 bis 7: Klebe-Sitzblockade für Klimaschutz zwar „Gewalt“ im Sinne sog. ‚Zweite-Reihe-Rechtsprechung‘ des Bundesgerichtshofs, aber nicht „verwerflich“ im Sinne des § 240 Absatz 2 Strafgesetzbuch

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Durchsuchung bei Beschuldigten (§ 102 StPO) versus Durchsuchung bei anderen Personen (§ 103 StPO)

§ 102 StPO lautet:

„Bei dem, welcher als Täter oder Teilnehmer einer Straftat oder der Datenhehlerei, Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei verdächtig ist, kann eine Durchsuchung der Wohnung und anderer Räume sowie seiner Person und der ihm gehörenden Sa­chen sowohl zum Zweck seiner Ergreifung als auch dann vorgenommen werden, wenn zu vermuten ist, daß die Durchsuchung zur Auffindung von Beweismitteln füh­ren werde.“

§ 103 Absatz 1 Satz 1 StPO lautet:

„Bei anderen Personen sind Durchsuchungen nur zur Ergreifung des Beschuldigten oder zur Verfolgung von Spuren einer Straftat oder zur Beschlagnahme bestimmter Gegenstände2 und nur dann zulässig, wenn Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, daß die gesuchte Person, Spur oder Sache sich in den zu durchsu­chenden Räumen befindet.“

Soweit es um Beweismittel geht, genügt also im Rahmen von § 102 StPO (Durchsu­chung bei Beschuldigten), daß

  • „zu vermuten ist, daß die Durchsuchung zur Auffindung

  • von“ irgendwelchen „Beweismitteln führen werde“ (Hv. hinzugefügt).

Im Rahmen von § 103 StPO (Durchsuchung bei anderen Personen) ist dagegen inso­weit erforderlich,

  • daß es um die „Beschlagnahme bestimmter Gegenstände“ geht

    und

  • daß „Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, daß die gesuchte […] Spur oder Sache sich in den zu durchsuchenden Räumen befindet“ (Hv. hinzu­gefügt).

Also:

  • irgendwelche „Beweismittel“ versus „bestimmte Gegenstände“

    sowie

  • ‚Vermutung‘ versus „Tatsachen […], aus denen zu schließen ist“.3 Daß „das Auffinden aufgrund kriminalistischer Erfahrung o[der] nach der Lebenserfah­rung“ – bloß – „wahrscheinlich ist“ genügt im Rahmen des § 103 Absatz 1 Satz 1 StPO dagegen nicht“ (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 202265, § 103, Randnummer 6; Hv. hinzugefügt).4

Es genügt auch nicht, daß diese Tatsachen bloß gegeben sind – sie müssen vielmehr auch (jedenfalls in der Regel) in dem Durchsuchungsbeschluß vermerkt werden:

„Die Gefährdung des Untersuchungserfolges beziehungsweise die schutzwürdigen Belange des Beschuldigten stehen im Regelfall der Mitteilung der Tatsachen, die die Annahme begründen, dass sich die gesuchten Gegenstände bei dem betroffenen Dritten befinden (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 103 Rn. 6), nicht entgegen. Der entsprechende Teil der Beschlussgründe ist dem Drittbetroffenen daher grundsätzlich bereits bei der Durchsuchung bekannt zu geben, denn nur so kann der Drittbetroffene überprüfen, ob ungeachtet der generellen Rechtmäßigkeit ei­ner Maßnahme gegen den Beschuldigten die Ermittlungsbehörden rechtmäßig Maß­nahmen gegen ihn ergriffen haben.“ (BGH, Beschluß 28.08.2017 zu den Aktenzeichen 1 BGs 148/173 und BJs 10/16-2; http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&nr=78918&anz=1&pos=0&Frame=4&.pdf, S. 7 f., Textziffer 21)

„bestimmte Gegenstände“

Der erste dieser beiden Unterschiede ist auch bereits vom Bundesverfassungsgericht betont worden (auch damals ging es um einen Durchsuchungsbeschluß des Amtsge­richts München):

„der Wortlaut des § 103 StPO [lässt] im Gegensatz zu § 102 StPO (‚zur Auffindung von Beweismitteln‘) die Durchsuchung ‚zur Beschlagnahme bestimmter Gegenstän­de‘ zu“. (BVerfG, Beschluß vom 18.03.2009 zum Aktenzeichen 2 BvR 1036/08; https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2009/03/rk20090318_2bvr103608.html, Textziffer 66)

In diesem Zusammenhang betonte das Bundesverfassungsgericht auch, daß eine bloß „gattungsmäßige Beschreibung der gesuchten Unterlagen [...]“ bloß dann ausrei­che, wenn „ein unmittelbarer Bezug der gesuchten Gegenstände zum Ermittlungsver­fahren gegeben ist“ (ebd.).

Dient die Durchsuchung dagegen „dem Auffinden von Gegenständen […], die keinen unmittelbaren Bezug zum Ermittlungsverfahren aufweisen, bedarf es besonderer Gründe, aus denen sich die Bedeutung der gesuchten Gegenstände für das Ermitt­lungsverfahren und die Rechtfertigung für den Eingriff in die Rechte des unbeteiligten Dritten ergeben“ (ebd.; meine Hv.).

„Fehlende Beweisbedeutung“ zum Beispiel von „gesuchten Daten macht die Durch­suchung unzulässig“ (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 202265, § 102, Randnummer 6).5

Der BGH sah kürzlich die „Beschreibung [der zu <durch>suchenden Gegenstände] als Beweismittel, die Hinweise auf verfahrensrelevante Kommunikation [des Zeugen] mit dem Besch. [= Beschuldigten] oder weiteren Personen geben können“6, als aus­reichend an. Eine solche Beschreibung läßt sich dem § 103-Durchsuchungsbe­schluß des Amtsgerichts München in Sachen „Die Letzte Generation“ – jeden­falls in der mir übersandten anonymisierten Form – gerade nicht entnehmen.

Des weiteren: Die Umschreibung der zu suchenden Beweismittel (im Falle des § 103 Absatz 1 Satz 1 StPO: der bestimmten Gegenstände) kann nicht erst – auf Be­schwerde hin – nachgeholt werden kann:

„Mängel bei der ermittlungsrichterlich zu verantwortenden Umschreibung des Tatvor­wurfs und der zu suchenden Beweismittel können im Beschwerdeverfahren nicht ge­heilt werden. […]. Eine Nachbesserung der ermittlungsrichterlichen Durchsuchungs­gestattung ist mit Blick auf dessen Umgrenzungsfunktion nicht mehr möglich.“ (BVerfG, Beschluß vom 20.04.2004 zum Aktenzeichen 2 BvR 2043/03; https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2004/04/rk20040420_2bvr204303.html, Textziffer 4)

Für Durchsuchungen bei Nicht-Beschuldigten gelten „besondere Anforderungen an die Prüfung der Verhältnismäßigkeit“

Bundesverfassungsgericht: „Anforderungen an die Prüfung der Verhältnismäßigkeit“ im Falle von Durchsuchungen bei Nicht-Beschuldigten

Des weiteren postulierte das Bundesverfassungsgericht in der gerade schon zitierten Entscheidung:

„Die Durchsuchung nach § 103 StPO bei einer nicht verdächtigen Person, die durch ihr Verhalten auch aus Sicht der Ermittlungsbehörden in keiner Weise Anlass zu den Ermittlungsmaßnahmen gegeben hat, stellt besondere Anforderungen an die Prüfung der Verhältnismäßigkeit (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Juli 2006 – 2 BvR 299/06 –, NJW 2007, S. 1804 <18057>).“ (BVerfG, Beschluß vom 18.03.2009 zum Aktenzeichen 2 BvR 1036/08; https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2009/03/rk20090318_2bvr103608.html, Textziffer 65)

Die Frage, ob die ganze Verhältnismäßigkeits-Rechtsprechung des Bundesverfas­sungsgerichts auf soliden Füßen steht und für Betroffene einen konkreten und bere­chenbaren Schutz bietet, oder, ob sie vielmehr vor allem eine warme Legitimations­rhetorik ist8, die in erster Linie zu Rechtsunsicherheit führt, muß an dieser Stelle – im Interesse der Eingrenzung des Themas – ausgeklammert werden.

Jedenfalls postuliert das Bundesverfassungsgericht (auch) für Durchsuchungen bei Beschuldigten:

„bei allen staatlichen Eingriffen in die Freiheitssphäre [hat der Richter] den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwischen Mittel und Zweck zu beachten“. (BVerfGE 16, 194 - 203 [201 f.]9; Hv. hinzugefügt) „Diese Zwangsmaßnahmen [Durchsuchungen und Beschlagnahmen], […], enthalten schon ihrer Natur nach regelmäßig einen erheblichen Eingriff in die grundrechtlich ge­schützte Lebenssphäre der Betroffenen, namentlich in die Grundrechte der Art. 2 und 13 GG. Ihre Anwendung steht daher von vornherein unter dem allgemeinen Rechts­grundsatz der Verhältnismäßigkeit (BVerfGE 19, 342 [348-349]; 17, 108 [11710]; 16, 194 [202]). Der jeweilige Eingriff muß in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des bestehenden Tatverdachts stehen; ferner muß gerade diese Zwangsmaßnahme zur Ermittlung und Verfolgung der Straftat erforderlich sein; dies ist nicht der Fall, wenn andere, weniger einschneidende Mittel zur Verfügung ste­hen. Schließlich muß die Durchsuchung den Erfolg versprechen, geeignete Beweis­mittel zu erbringen.“ (BVerfGE 20, 162 - 230 [186])

Für Durchsuchungen bei Nicht-Beschuldigten muß dies also erst recht gelten – falls denn der bundesverfassungsgerichtliche Ausgangspunkt korrekt ist; und in Bezug auf Nicht-Beschuldigten ist dann zusätzlich noch zu berücksichtigen,

  • daß sie – sofern denn eine Durchsuchung bei ihnen stattfindet – von einer staatlichen Maßnahmen belastet werden, obwohl ihnen selbst nicht einmal et­was vorgeworfen wird11 (geschweige denn, daß sie etwas Vorwerfbares getan haben)

    und

  • daß Nicht-Beschuldigte in der Regel kein Verdunkelungsinteresse haben – also oftmals bereit sind, die vom Staat begehrten Gegenstände auf Aufforderung hin freiwillig zur Verfügung zu stellen12: Es „muss gerade diese Maßnahme“ – also die Durchsuchung – „zur Ermittlung und Verfolgung der Straftat erforder­lich sein; dies ist nicht der Fall, wenn andere, weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stehen“ (Beschluß vom Beschluss vom 03.07.2006 zum Akten­zeichen 2 BvR 299/0613,Textziffer 26; BVerfG, Beschluß vom 18.03.2009 zum Aktenzeichen 2 BvR 1036/0814, Textziffer 63).

Sogar für einen (den dort entschiedenen) Fall der Durchsuchung bei einer Beschul­digten hat das Bundesverfassungsgericht den Durchsuchungsbeschluß für verfas­sungswidrig erklärt und aufgehoben, weil als gleich geeignetes, aber milderes Mittel, die Aufforderung zur Vorlage der gesuchten Stückstücke geboten war:

„Die tatsächlichen Umstände für die Prüfung eines tatbestandsmäßigen Handelns im Sinne der Strafnorm waren den Strafverfolgungsbehörden aufgrund einer Internetre­cherche bekannt. Für das gegen die Beschwerdeführerin geführte Ermittlungsverfah­ren wegen Missbrauchs von Titeln nach § 132a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StGB bedurfte es daher der Ernennungsurkunde als Beweismittel nicht. Unter diesen Umständen hätte der Zweck, verwertbare und verfahrenserhebliche Beweismittel zu erlangen, auch durch die Aufforderung wirksam erreicht werden können, den Strafverfolgungs­behörden die Ernennungsurkunde und weitere Beweismittel (Visitenkarten, etc.) zeitnah vorzulegen. Dieses wäre gegenüber der Durchsuchung ein milderes, aber für die Verfolgung der hier in Frage stehenden, eher gering wiegenden Straftat ein hinreichend wirksames Mittel gewesen.“ (Beschluß vom 30.07.2015 zum Aktenzeichen 1 BvR 1951/1315, Textziffer 19)

Meyer-Goßner/Schmitt sowie BGH: Potentieller Vorrang der Aufforderung zur Herausgabe (§ 95 StPO) vor einer Durchsuchung (§ 103 StPO)

Dabei genügt es jedenfalls nicht immer zunächst einmal den Durchsuchungsbeschluß zu erlassen und dann erst bei bzw. vor Beginn dessen Vollziehung der betroffenen Person die Wahl zulassen, ob sie den gesuchten „bestimmten Gegenstand“ freiwillig herausgibt oder – im Weigerungsfall – die Durchsuchung tatsächlich durchgeführt wird:

„dieser [der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz] kann erfordern, dass der Betroffene gem. § 95 I16 zunächst zur freiwilligen Herausgabe des Beweisgegenstandes aufgefordert wird (BGH NJW 2022, 795 (797); LG Kaiserslautern NStZ 1981, 438; LG Mühlhau­sen wistra 2007, 195; vgl. auch BVerfG WiStra 2008, 463; LG Köln NJW 1981, 1746; Löwe/Rosenberg/Tsambikakis Rn. 817 hält die Durchsuchung ohne dieser Aufforde­rung sogar für rechtswidrig). Ein gds. Vorrang des Herausgabeverlangens existiert auch bei einer Rechtsanwaltskanzlei nicht (LG Köln wistra 2021, 37 mAnm Niemann wistra 2021, 13; OLG Hamm18 wistra 2021, 17).“ (Köhler, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 202265, § 103, Randnummer 1a)

In der von Köhler angeführten Entscheidung BGH NJW 2022, 795 (797) heißt es:

„Abhängig von den sich aus den bisherigen Ermittlungsergebnissen ergebenden tat­sächlichen Umständen, insbesondere der Kooperationsbereitschaft bzw. -pflicht des Adressaten der Maßnahme […], kann es im Einzelfall sogar geboten sein, anstelle ei­ner Durchsuchungsanordnung ein Herausgabeverlangen nach § 95 StPO als sankti­onsfähige strafprozessuale Maßnahme vordringlich in Betracht zu ziehen. Ein solches kann sich insbesondere dann als gleich geeignet, indes weniger beeinträchtigend er­weisen, wenn Gewissheit herrscht, dass sich ein beschlagnahmefähiger Beweisge­genstand im Gewahrsamsbereich eines herausgabepflichtigen Adressaten befindet, es zur Erlangung des Gegenstandes nicht auf einen Überraschungseffekt ankommt die Maßnahme erfolgversprechend ist, das Gebot der Verfahrensbeschleunigung nicht entgegensteht und weder ein das Ermittlungsverfahren bedrohender Verlust der begehrten Sache zu befürchten ist noch etwaige Verdunkelungsmaßnahmen zu be­sorgen sind (vgl. BVerfG NJW 1994, 2079 (2080 f.); LG Bonn NStZ 1983, 327 = NJW 1983, 1072 Ls.; LG Saarbrücken NStZ 2010, 534 (535); LG Dresden NZI 2014, 236 (237); vgl. Satzger/Schluckebier/Widmaier/Hadamitzky § 103 Rn. 9).“ (Beschluß vom 18.11.2021 zum StB 6/21, StB 7/2119, in: Neue Juristische Wochen­schrift 2022, 795 - 798 [797])

Im Falle „Letzte Generation“ wurde ein solches Herausgabeverlangen gegenüber den Nicht-Beschuldigten nicht nur nicht ausgesprochen, sondern es wurde vom Amtsge­richt München (ausweislich des mir übersandten Durchsuchungsbeschlusses) nicht einmal geprüft, ob ein solches Herausgabeverlangen (vorrangig vor dem Durchsu­chungsbeschluß) hätte ausgesprochen werden müssen.

Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung: Vorrang des Herausgabeverlangens immer dann, wenn eine Kooperationsverweigerung nicht vorab absehbar ist

Dagegen sind die – im folgenden zitierten – Ausführungen von Wohlers wohl im Sin­ne eines grundsätzlichen Vorranges des Herausgabeverlangens nach § 95 Absatz 1 StPO vor einem Durchsuchungsbeschluß gemäß § 103 StPO (und dessen Vollzie­hung zu verstehen) – es sei denn, eine Kooperationsverweigerung ist im voraus ab­zusehen:

„Zwar ist dann, wenn zu erwarten ist, dass der Betroffene mit den Strafverfolgungsor­ganen nicht kooperieren wird und die Kenntnis von der beabsichtigten Durchsuchung deren Erfolg gefährden oder vereiteln könnte, die vorsorgliche Beschaffung einer richterlichen Durchsuchungsanordnung zulässig. Der nichtverdächtige Betroffene ist aber vor der Vollstreckung stets aufzufordern, den gesuchten Gegenstand freiwillig herauszugeben.“ (Wohlers; in: Wolter, SK-StPO, 20104, § 103, Randnummer 16; Hv. hinzugefügt)

Also: Nur in bestimmten Fällen ist die „vorsorgliche Beschaffung einer richterlichen Durchsuchungsanordnung“ zulässig; in der Regel muß zunächst die Herausgabeauf­forderung – ohne Durchsuchungsbeschluß als Drohkulisse – ergehen.

Landgericht Köln: Nur bei Anhaltspunkten für die Entziehung von der Mitwirkungspflicht darf ein Durchsuchungsbeschluß Nicht-Beschuldigte erlassen werden

In diesem Sinne hatte auch das Landgericht Köln 1981 entschieden:

Es „bestehen […] keine Anhaltspunkte dafür, daß der Bf. [= Beschwerdeführer] sich einer ihm vom Gesetz auferlegten Mitwirkungspflicht im Ermittlungsverfahren entzie­hen würde; nur dann aber bestände Anlaß zur Anordnung einer Durchsuchung (Mey­er, in: Löwe-Rosenberg, § 103 Rdnr. 1)“.20 (Beschluß vom 07.04.1981 zum Aktenzeichen 117 (62) Qs 3/80, in: Neue Juristische Wochenschrift 1981, 1746 – 1747 [1747])

Dort wurde wohlgemerkt der amtsgerichtliche Durchsuchungsbeschluß vom Landge­richt aufgehoben – und nicht etwa (bloß) beanstandet, daß der Beschwerdeführer vor Vollziehung des Durchsuchungsbeschlusses keine Gelegenheit gehabt hätte, die ge­suchten Unterlagen freiwillig herauszugeben. Vielmehr konnte der Beschwerdeführer die Durchsuchung gerade dadurch abwenden, daß „der die fraglichen Urkunde-Ur­schriften enthaltende geheftete Aktenband in einen versiegelten Umschlag [von den Ermittlungsbeamten mit]genommen wurde, der bis zur Klärung der Rechtslage beim AG [= Amtsgericht] hinterlegt werden sollte“ (ebd., 1746 [li. Sp. unten]).

Landgericht Kaiserslautern: Im Falle von Nicht-Beschludigten „regelmäßig[er]“ Vorrang der Aufforderung zur Herausgabe vor der Durchsuchung

Auch das Landgericht Kaiserslautern betonte im selben Jahr:

„Im vorl. Fall hat die StA aber gerade nicht die Anordnung von Zwangsmaßnahmen beantragt, sondern an deren Stelle zunächst den Weg des § 95 StPO beschritten. In der Tat entspricht dieses von Gericht und StA gewählte Verfahren auch den rechtli­chen und tatsächlichen Notwendigkeiten. Zunächst gewinnt insb. der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. auch § 94 II StPO21) Bedeutung, nachdem es geboten ist, der zwangsweisen Inanspruchnahme tatunverdächtiger Dritter regelmäßig die Auffor­derung zur Herausgabe vorausgehen zu lassen (vgl. Löwe-Rosenberg, aaO, § 103 StPO Rdnr. 1 m. w. N.).“ (Beschluß vom 19.03.1981 zum Aktenzeichen 5 Os 346/110, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht 1981, 438 - 440 [439])

Landgericht Saarbrücken: Vorrang des § 95 jedenfalls dann, wenn auf Seiten des Nicht-Beschuldigten u.a. kein Verdunkelungsinteresse zu befürchten ist

Auf derselben Linie liegt auch ein Beschluß des Landgerichts Saarbrücken aus dem Jahre 2010:

„Die Durchsuchungsanordnung hätte […] vorliegend (noch) nicht erfolgen dürfen, da nach dem Prinzip des geringstmöglichen Eingriffs eine den Bf. weniger belastende Maßnahme in gleichem Umfang erfolgversprechend gewesen wäre. Denn der Bf. hät­te durch einen Beschluss nach § 95 StPO unter Androhung von Ungehorsamsfolgen zur Herausgabe der Dokumente ‚…‘ und ‚Stadtverband …‘ aufgefordert werden kön­nen.“ (Beschluß vom 02.02.2010 zum Aktenzeichen 2 Qs 1/10, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht 2010, 534 - 535 [535])

Daran ändere auch nichts, daß der Beschwerdeführer sich – aus persönlicher Verär­gerung über ein bestimmtes staatsanwaltliches Vorgehen – geweigert habe, auf bloß telefonisch-polizeiliche Aufforderung hin die Dokumente herauszugeben (vgl. ebd., li. Sp. oben [„verschnupft“] / re. Sp. unten [„persönliche Differenzen“]).

Im Rahmen der näheren Begründung seiner Rechtsauffassung nennt das Landge­richt weitere Fundstellen für diese Position:

„Ein auf diese Norm [§ 95 StPO] gestütztes Herausgabeverlangen bietet sich immer dann als strafprozessuales Instrument an, wenn Gewissheit herrscht, dass sich ein beschlagnahmefähiger Beweisgegenstand im Gewahrsamsbereich eines herausga­bepflichtigen Adressaten befindet – also nicht etwa im Gewahrsamsbereich des Be­schuldigten (Meyer-Goßner § 95 Rn 5 mwN) –, es zur Erlangung des Gegenstandes nicht auf einen Überraschungseffekt ankommt, die Maßnahme erfolgversprechend ist, das Gebot der Verfahrensbeschleunigung nicht entgegensteht und weder ein das Er­mittlungsverfahren bedrohender Verlust der begehrten Sache zu befürchten ist, noch etwaige Verdunkelungsmaßnahmen zu besorgen sind (vgl. hierzu Kurth NStZ 1983, 327; Bittmann, NStZ 2001, 231 ff.; LG Berlin ZlnsO 2008, 86S; LG Potsdam JR 2008, 260f. mit Anm. Menz; BVerfG NJW 1994, 2079, 2080 f.; a. A. zur praktischen Bedeu­tung LG Bonn NStZ 1983, 327).“

Landgericht Limburg: In aller Regel muß einE Nicht-BeschuldigteR zunächst zu einer freiwilligen Herausgabe des gesuchten Beweismittels aufgefordert werden

2012 hat auch das Landgericht Limburg in einem Fall entschieden:

„Vorliegend hätte der Beschwerdeführer jedenfalls zunächst durch einen Beschluss gemäß § 95 StPO unter Androhung von Ungehorsamsfolgen zur Herausgabe des Beamers aufgefordert werden können. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfor­dert nämlich in aller Regel, dass der Dritte zunächst zu einer freiwilligen Herausgabe des gesuchten Beweismittels aufgefordert wird. Dieser, dem § 95 Abs. 1 StPO inne wohnende Rechtsgedanke ist grundsätzlich bei Fällen der Durchsuchung bei Dritten gemäß § 103 StPO im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen. Dem Herausgabeverlangen wird nicht bereits dadurch genüge getan, dass dieses Aufforderungen in unmittelbarem Zusammenhang mit einer bevorstehenden Durch­führung einer Durchsuchung erfolgt. Anhaltspunkte dahingehend, dass vorliegend über eine derartige Vorgehensweise der Durchsuchungszweck hätte gefährdet sein können, bestanden nach dem Ermittlungsergebnis nicht.“

Landgericht Braunschweig: Aufforderung erst unmittelbar vor der bevorstehenden Vollstreckung der Durchsuchungsanordnung genügt nicht

Das Landgericht Braunschweig hat 2016 entschieden:

„Eine Durchsuchung nach § 103 StPO darf nur ergehen, wenn nach dem Prinzip des geringsten möglichen Eingriffs eine den Bf. weniger belastende Maßnahme im gleichen Umfang nicht erfolgversprechend ist. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordert in aller Regel, dass der unbeteiligte Dritte zunächst zu einer freiwilligen Herausgabe der gesuchten Beweismittel aufgefordert wird (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 59. Aufl., § 103 Rn. 1a, m.w.N.). […]. Dem Herausgabeverlangen gem. § 95 Abs. 1 StPO wird auch nicht dadurch Genüge getan, dass die Aufforderung (wie in dem angegriffenen Beschl. enthalten) unmittelbar vor der bevorstehenden Vollstreckung der Durchsuchungsanordnung erfolgt, da in diesen Fällen die Einwilligung unter dem Eindruck der bevorstehenden Durchsuchung steht und nicht frei von Zwang abgegeben wird (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.09.2008 – 2 BvR 683/08, BeckRS 2008, zit. nach Beck Online).“ (Beschluß vom 11.07.2016 zum 16 Qs 135/16, in: Strafverteidiger 2017, 371)

Wasser im Wein: Im „ersten Zugriff“ wird regelmäßig § 103 (und nicht § 95) StPO angewendet

Rechtsanwalt Nico Werning, Vorsitzender der Initiative Bayerischer Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger, hält diese Entscheidungen zwar für richtig, aber warnt davor, in sie zuviel Hoffnungen zu setzen: Nach seiner Praxiserfahrung er­folgt im „ersten Zugriff“ regelmäßig eine Durchsuchung gemäß § 103 StPO; wenn das Verfahren schon läuft und bekannt ist, dann wird häufig § 95 StPO angewendet – aber auch das nicht immer. Manchmal kommt es auch in laufenden Verfahren noch zu Durchsuchungen bei Dritten gemäß § 103 StPO.

Bezug der durchsuchten Räume und Sachen zum Ermittlungsverfahren

Im Rahmen des – gegenüber den Ermittlungsbehörden größzügigeren – § 102 StPO genügt die bloße Mitbenutzung oder der bloße Mitgewahrsam durch eine beschuldig­te Person für die Zulässigkeit der Durchsuchung.22 Dies kann allerdings

„zu Härten“ zum Beispiel „für die Mitbewohner führen. Dies gilt zunächst für Familien­wohnungen, aber auch für Arbeits-, Geschäfts- und Betriebsräume, die der Verdächti­ge nur mitbenutzt, die ihm aber vom Arbeitgeber oder Dienstherrn zur Arbeitsaus­übung oder sonstigen Nutzung überlassen worden sind. Alle diese Räume werden nach § 102 durchsucht, wenn nur ein Mitbenutzer Verdächtiger ist.“23

Deshalb wird auch im Rahmen des § 102 StPO zumindest postuliert:

„Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 105, 59 ff.) gebietet ein schonendes Vor­gehen, das die Sphäre der Nichtverdächtigen respektiert. Dem ist vorab durch eine genaue Umschreibung des Durchsuchungszwecks Rechnung zu tragen. Insbe­sondere ist darauf zu achten, dass nicht zum gemeinschaftlichen Herrschaftsbereich gehörende Gegenstände, wie Tagebücher des nichtverdächtigen Ehegatten, erst gar nicht durchsucht […] werden. Ist eine eindeutige Zuordnung zum verdächtigen Mitbe­wohner unmöglich, muss eine Durchsuchung nach § 102 unterbleiben.“24 „auf die ausschließlich dem unverdächtigen Mitbesitzer [der Wohnung] zuzuordnen­den Gegenstände und Sphären [ist] besonders Rücksicht zu nehmen; unzulässig ist es, Gegenstände, die ohne weiteres eindeutig einem Dritten zuzuordnen sind, zu durchsuchen oder auch nur iSd § 110 durchzusehen (LG Saarbrücken NStZ 1988, 424; AK-Amelung Rn 17).“ (Gercke, in: HK-StPO, 20196, § 102, Randnummer 18)

Ist nun – im Rahmen des § 103 StPO – dagegen ausschließlich eine Nicht-Beschul­digte Person betroffen, so gilt dies nach der Rechtsprechung des BVerfG erst recht: In der Regel ist im Rahmen des § 103 StPO ein „unmittelbarer Bezug der gesuchten Gegenstände zum Ermittlungsverfahren“ erforderlich; fehlt dieser „unmittelbarer Be­zug“, so „bedarf es besonderer Gründe, aus denen sich die Bedeutung der gesuchten Gegenstände für das Ermittlungsverfahren und die Rechtfertigung für den Eingriff in die Rechte des unbeteiligten Dritten ergeben“:

„Sofern ein unmittelbarer Bezug der gesuchten Gegenstände zum Ermittlungsverfah­ren gegeben ist, reicht hierfür eine eingegrenzte, aber doch gattungsmäßige Be­schreibung der gesuchten Unterlagen aus (vgl. BVerfGK 1, 126 <132 f.>). Soweit die Durchsuchung dem Auffinden von Gegenständen dient, die keinen unmittelbaren Be­zug zum Ermittlungsverfahren aufweisen, bedarf es besonderer Gründe, aus denen sich die Bedeutung der gesuchten Gegenstände für das Ermittlungsverfahren und die Rechtfertigung für den Eingriff in die Rechte des unbeteiligten Dritten ergeben.“ (BVerfG, Beschluß vom 18.03.2009 zum Aktenzeichen 2 BvR 1036/08; https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2009/03/rk20090318_2bvr103608.html, Textziffer 66)

In der im Zitat angeführten Entscheidung BVerfGK 1, 126 heißt es bei Textziffer 21:

„Fehlt […] ein gegen den von der Durchsuchung Betroffenen selbst gerichteter Ver­dacht der Beteiligung an der Tat, dann muss der Eingriffsanlass hinsichtlich des Durchsuchungsziels näher konkretisiert sein, um die staatliche Inanspruchnahme des Betroffenen zu rechtfertigen. Insoweit müssen konkrete Gründe dafür sprechen, dass ein Beweisgegenstand bei dem Unverdächtigen gefunden werden kann. Sind aber im Einzelfall ausreichende Gründe dafür gegeben, dass Beweisgegenstände ei­ner bestimmten Kategorie auch bei einem Nichtverdächtigen zu finden sind, so ist es rechtlich nicht fehlerhaft, wenn aus demselben Grunde sowohl bei einem Nichtver­dächtigen als auch bei dem Beschuldigten durchsucht wird. […]. Auch im Fall des § 103 StPO reicht dabei eine eingegrenzte, aber doch gattungsmäßige Bestimmung der gesuchten Gegenstände aus (vgl. Malek/Wohlers, Zwangsmaßnahmen und Grundrechtseingriffe im Ermittlungsverfahren, 2. Aufl. 2002, Rn. 45).“ (Beschluss vom 28.04.2003 zum Aktenzeichen 2 BvR 358/03; https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2003/04/rk20030428_2bvr035803.html; Hv. hinzugefügt)

Das von mir unterstrichene „dabei“ bezieht sich auf Durchsuchungen, bei denen „im Einzelfall ausreichende Gründe dafür gegeben, dass Beweisgegenstände einer be­stimmten Kategorie auch bei einem Nichtverdächtigen zu finden sind“. Fehlt es an diesen „ausreichende[n] Gründe“, ist also eine genauere Bezeichnung – als bloß „gat­tungsmäßige Bestimmung“ – der zu suchenden Gegenstände erforderlich.

Ob der § 103-Durchsuchungsbeschluß des Amtsgerichts dieser Anforderung genügt, läßt sich anhand der mir übersandten anonymisierten Form nicht feststellen (siehe dazu unten S. 18).

„Tatsachen […], aus denen zu schließen ist, daß die gesuchte Person, Spur oder Sache sich in den zu durchsuchenden Räumen befindet“

Wie bereits gesagt, müssen gemäß § 103 als Voraussetzungen für Durchsuchungen bei Nicht-Beschuldigten „Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, daß die gesuchte […] Spur oder Sache sich in den zu durchsuchenden Räumen befindet“ (Hv. hinzugefügt).

Dazu hat das Bundesverfassungsgericht entschieden:

„§ 103 Abs. 1 Satz 1 StPO verlangt für die Suche nach Beweismitteln bei Dritten die Angabe von Tatsachen, aus denen zu schließen ist, dass sich die gesuchte Sache gerade in den zu durchsuchenden Räumen befindet. Schon deshalb hätte es eines zumindest kurzen Hinweises auf die angenommene Verbindung zwischen der Be­schwerdeführerin und den Beschuldigten bedurft (vgl. dazu auch Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. <2005>, § 103 Rn. 6). Der Durchsuchungsbeschluss erschöpft sich dagegen in einer Wiederholung des Wortlauts der gegenüber den damaligen Be­schuldigten erlassenen Durchsuchungsbeschlüsse und erwähnt die Beschwerdefüh­rerin überhaupt nur in ihrer Eigenschaft als Inhaberin der zu durchsuchenden Woh­nung. Wird die Durchsuchung auf eine richterliche Anordnung gestützt und nicht aus­nahmsweise auf die Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden, reicht es nicht aus, dass sich Anlass und Zusammenhang der Durchsuchung für den Betroffenen erst aus den Gesamtumständen der Durchsuchung ergeben. Die bloße Wiedergabe des Wortlauts der gegenüber den damaligen Beschuldigten ergangenen Durchsuchungsbeschlüs­sen und das Fehlen jeglicher auf die Beschwerdeführerin bezogener Erwägungen weckt zudem erhebliche Zweifel an der eigenständigen richterlichen Prüfung der Durchsuchungsvoraussetzungen; […].“ (Beschluß vom Beschluss vom 03.07.2006 zum Aktenzeichen 2 BvR 299/0625,Textzif­fer Textziffer 27 f.)

Vergleichen wir nun diese gesetzlichen und verfassungsgerichtlichen Anforderungen mit dem Beschluß den mir das Amtsgericht München schickte, so müssen wir zu­nächst einmal feststellen, daß sich aufgrund der Anonymisierungen an entscheiden­den Stellen jedenfalls nicht positiv feststellen läßt, daß der Durchsuchungsbeschluß zumindest dann rechtmäßig wäre, wenn die „Letzte Generation“ zurecht als Kriminel­le Vereinigung verdächtigt würde.

Kaum Unterschiede zu dem Durchsuchungsbeschluß für die Beschuldigten

Der mir übersandte § 103-Durchsuchungsbeschluß des Amtsgerichts München krankt zunächst einmal daran, daß er – entgegen der gerade zitierten Forderung des BVerfG nach einer „eigenständigen richterlichen Prüfung der Durchsuchungsvoraussetzun­gen“26 – nahezu vollständig dem § 102-Durchsuchungsbeschluß gleicht. Dies ist zwar insofern unschädlich, als in beiden Beschlüssen darzulegen ist, daß es den Verdacht einer Straftat und daß es Verdächtige gibt.

Problematisch ist vorliegend aber zweierlei:

  • Die Darlegung des Verdachts auf Straftaten gemäß § 129 StGB erfolgt auch in dem Durchsuchungsbeschluß in Bezug auf die Beschuldigten nur sehr lücken­haft.27 Auch Rechtsanwalt Stephan Schneider vom Vorstand der Vereinigung Berliner Strafverteidiger*innen kritisiert, daß die Bezeichnung der der „Letzten Generation“ durch das Amtsgericht München „ohne große Subsumtionsleis­tung“ erfolge.

    „Etwas zirkelschlüssig [an der Argumentation des Amtsgerichts] ist es […], dass das AG München feststellt, dass ‚strafbare Aktionen‘ begangen wurden (S. 3 des Be­schlusses28). Diese Feststellung könnte man nur treffen, wenn die strafbaren Aktio­nen auch rechtskräftig entschieden sind. Sind sie das nicht, dann müsste man eher davon sprechen, dass der Verdacht strafbarer Aktionen besteht. Und daraus würde sich dann ggf. der Verdacht einer kriminellen Vereinigung ergeben. Ob aber eine kri­minelle Vereinigung vorliegt, ist eine Rechtsfrage. Zu Rechtsfragen gibt es keinen Verdacht – diese müssen entschieden werden. An der Stelle macht es sich das AG München doch etwas leicht, wenn sie ohne große Subsumtionsleistung die Letzte Generation als Kriminelle Vereinigung bezeichnet. […]. Damit lässt sich aber der Schluss ziehen, dass der Durchsuchungsbeschluss und die Einordnung der ‚Letzten Generation‘ als kriminelle Vereinigung keiner strafrechtlich Subsumtionsleistung zu verdanken ist, sondern eher einer politischen Motivation. Politisches motivierte Strafverfolgung (oder auch Nichtverfolgung) war allerdings schon immer bedenklich. Unter den Nazis, in den 70’ern in der Bundesrepublik, in der DDR. Der Beschluss ist damit am Ende aus meiner Sicht nur eines: Zeugnis rechtsstaatlichen Rückschritts.“

    Der Vorsitzender der Initiative Bayerischer Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger, Nico Werning, ist der Überzeugung, daß „die Staatsanwaltschaft mit der Annahme der kriminellen Vereinigung zu weit“ geht und spricht zur Begründung seiner Auffassung weitere Punkte an:

    „Die Straftaten (weitestgehend Nötigung und Sachbeschädigung), die möglicherwei­se durch die Aktivisten begangen wurden / werden, sind unterhalb der Erheblich­keitsschwelle – überspitzt formuliert: Der Umstand, dass einige Pendler zu spät zur Arbeit kommen oder ein – auch historischer – Bilderrahmen beschädigt wird, führt nicht dazu, dass das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung bedroht wird. § 129 StGB zielt auf mafiaähnliche Strukturen ab – davon ist die Letzte Generation mE weit ent­fernt. Hinzu kommt: Zwar sehen die in Bezug genommenen Strafnormen eine Höchststrafe von mehr als 2 Jahren vor und unterfallen sie damit grundsätzlich dem Gesetzeswortlaut des § 129 StGB. Der deutsche Gesetzgeber ist aber mit dieser Regelung über Rahmenbeschluss 2008/841/JI29 der EU hinausgeschossen, die min­destens eine Höchststrafe von 4 Jahren vorgesehen hat. Und zudem ist Zweck der Aktionen nicht die Begehung von Straftaten, sondern das Aufmerksam-machen auf die Klimaprobleme, die für jedermann offenkundig sind (vgl. § 129 Abs. 3 Nr. 2 StGB).“

    Diese Ausführungen erfordern für die Allgemeinverständlichkeit vermutlich eini­ge zusätzlich Erläuterungen – am einfachsten läßt sich vermutlich der Hinweis auf § 129 Absatz 3 Nr. 2 Strafgesetzbuch erklären. Diese Nummer nimmt sol­che Vereinigungen von der Strafbarkeit aus, bei denen die „Begehung von Straftaten nur ein Zweck oder eine Tätigkeit von untergeordneter Bedeutung ist“.

    Nun umfassen die Aktivitäten der „Letzten Generation“ aber jedenfalls nicht nur Straftaten, sondern auch das Schreiben und Verbreiten von Pressemitteilun­gen; Reden mit PolitikerInnen, vielleicht auch das Durchführen von Diskussi­onsveranstaltungen. Das heißt: Das Amtsgericht hätte zumindest mal prüfen müssen, ob die angeblichen Straftaten (die Beurteilung der Blockaden ist ja eh umstritten [siehe dazu Anhang 2 [S. 28]) im Vergleich mit den anderen Aktivitäten bloß von „untergeordneter Bedeutung“ sind.

    Für weitere Erläuterungen sei auf den Anhang 1 (S. 23) zum hiesigen Artikel verwiesen.

  • Der § 103-Durchsuchungsbeschluß in Bezug auf die Nicht-Beschuldigten un­terscheidet sich auch an den Punkten, wo er sich – aufgrund der strengeren Durchsuchungsvoraussetzung als in § 102 StPO – von dem Beschluß in Bezug auf die Beschuldigten unterscheidet müßte, kaum von dem anderen Durchsu­chungsbeschluß, wie in den folgenden Abschnitten gezeigt werden wird.

Fraglichkeit, ob die zu suchenden Gegenstände hinreichend bestimmt bezeichnet wurden

Zu den zu suchenden Gegenständen heißt es auf S. 1 unten / S. 2 oben des mir vom Amtsgericht München übersandten § 103-Durchsuchungsbeschluß in Bezug auf die Nicht-Beschuldigten:

Ausschnitt 1:

http://blogs.taz.de/theorie-praxis/files/2023/06/Par_103_Durchsu-Beschl_S_1_f.png

Jedenfalls das, was zu lesen ist („alle Geschäftsunterlagen“30 etc.), ist keine Bezeich­nung „bestimmter Gegenstände“ (§ 103 Absatz 1 Satz 1 StPO) und auch keine Darle­gung des „unmittelbarer Bezug der gesuchten Gegenstände zum Ermittlungsverfah­ren“ (BVerfG31). Am Mittwoch der vergangenen fragte ich das Amtsgericht München:

„Ist der weiße Bereich auf S. 1 unten zwischen ‚auch digital.‘ und ‚Die Durchsicht‘ dem üblich Layout geschuldet oder ist dort eine nähere Spezifizierung entfernt, nach was für ‚Geschäftsunterlagen,Verträge, Erzeugnisse oder sonstigen Belege‘ gesucht werden sollte?“

Darauf erhielt ich am gestrigen Montag folgende Antwort:

„wie Sie richtig erfassten, liegt zwischen ‚auch digital.‘ und ‚Die Durchsicht‘ eine Anonymisierung zu Grunde.“

Der Öffentlichkeit wird also mittels der Weißfärbung der Passage die Information vorenthalten, ob in dem Beschluß tatsächlich „bestimmte Gegenstände“ bezeichnet sind oder ob der Beschluß allein schon mangels Bestimmtheit rechtswidrig ist.

Unklarheit der Tatsachen, aus denen zu schließen soll, daß die gesuchten Gegen­stände bei den Nicht-Beschuldigten zu finden sind

Auch die von § 103 Absatz 1 Satz 1 StPO verlangten „Tatsachen […], aus denen zu schließen ist, daß die gesuchte Person, Spur oder Sache sich in den zu durchsu­chenden Räumen befindet“, wird in der Öffentlichkeit in der mir übersandten Fassung des Durchsuchungsbeschlusses vorenthalten:

Ausschnitt 2:

http://blogs.taz.de/theorie-praxis/files/2023/06/Par_103_Durchsu-Beschl_S_Auffindbarkeit.png

Rechtsanwalt Stephan Schneider von der Vereinigung Berliner Strafverteidiger*innen merkt dazu an: „Dem Durchsuchungsbeschluss (von dem ja nicht bekannt ist, gegen welchen Dritten er sich richtet) kann ich keine Umstände entnehmen, dass sich Unterlagen bei der/dem Dritten befinden sollen.“

Nico Werning von der Initiative Bayerischer Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger weist ergänzend darauf hin, daß es „in der Praxis nicht selten der Fall [ist], dass Durchsuchungsbeschlüsse mit „heißer Nadel gestrickt“ werden und dann „nur sehr rudimentär erläutert wird“, warum die Gegenstände, deren Suche angeordnet wird, bei den jeweils Betroffenen zu finden sein sollen.

Keine Verhältnismäßigkeitsprüfung, die den Anforderungen des BVerfG gerecht wird

Die beiden Sätze in dem § 103-Durchsuchungsbeschluß zur Verhältnismäßigkeits-Prüfung sind wortlaut-identisch auch in dem § 102-Durchsuchungsbeschluß enthalten – eine spezifische Verhältnismäßigkeits-Abwägung in Bezug auf die Nicht-Beschul­digten fehlt:

Ausschnitt 3:

http://blogs.taz.de/theorie-praxis/files/2023/06/Par_103_Durchsu-Beschl_S_Verhaeltnism.png

Auf S. 2 oben des Beschlusses heißt es zwar – wie bereits gesehen –: „Die Be­schlagnahme der o.g. Gegenstände wird nach § 94, 98 StPO angeordnet, sofern sie nicht freiwillig herausgegeben werden.“

Dies betrifft aber nur die „Beschlagnahme“ – nicht die Suche – nach den ggf. zu be­schlagnahmenden Gegenständen. Vor allem wurde nicht – wie oben schon kritisiert – geprüft, ob nicht bereits vor Erlaß des Durchsuchungsbeschlusses hätte zur Heraus­gabe (ohne Durchsuchung) aufgefordert werden müssen.

Antworten des Amtsgerichts München auf Fragen nach dem Umfang der vorgenommenen Anonymisierungen

Da die Weißelungen gerade die Informationen betreffen, die nötig sind um die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Durchsuchungsbeschlusses beurteilen zu können, stellte ich dem Amtsgericht am Montag folgende Fragen, auf die ich heute (Dienstag) die Antworten erhielt. Da die Antworten freundlicherweise gleich zwischen meine Fragen geschrieben wurden, kann ich hier Fragen und Antworten gleich in einem Aufwasch zitieren:

1. Wie sollen denn überhaupt eine Beeinträchtigung des Persönlichkeitsschutzes in Betracht kommt, solange die Namen sowohl der Beschuldigten als auch der Nicht-Beschuldigten anonymisiert werden?

Es handelt sich um eine gerichtliche Entscheidung, die in einem laufenden Ermittlungsverfahren ergangen ist. Gerade bei Dritten besteht daher ein schutzwürdiges Interesse von auskunftspflichtigen Stellen weder namentlich genannt zu werden, noch dass Zusammenhänge mit den Durchsuchungsgegenständen oder den Umständen, die zur Annahme führen, dass Durchsuchungsgegenstände bei einem Dritten aufgefunden werden können durch auskunftspflichtige Stellen mitgeteilt werden. Aus diesem Grund erfolgt durch die Pressestelle auch keine Anonymisierung wie in Ihrer 2. Frage angesprochen.

2. Warum lassen Sie nicht zum Beispiel Informationen wie ‚Vertrag zwischen beschuldigter Person x und Nicht-Beschuldigter Y vom # Datum #‘ und ‚Rechnungen von nicht-Beschuldigter Person A an beschuldigte Person B aus der Zeit vom # Datum # bis # Datum #‘ stehen?

3. Warum lassen Sie nicht Informationen stehen, aus den sich ergibt, was die gesuchten Gegenstände („Geschäftsunterlagen“ etc.) denn beweisen sollen, also z.B. die Mitgliedschaft in der angeblichen Vereinigung, den Vereinigungscharakter des Personenkreises, die Beteiligung dieser oder jener Beschuldigter an diesen oder jenen Aktionen, das Kriterium ‚nicht nur von untergeordneter Bedeutung‘ (§ 129 III Nr. 2 StGB)?

In dem Beschluss sind Schwärzungen vorgenommen, die unter Berücksichtigung des Verfahrensstandes zur Zeit der Herausgabe des Beschlusses Rückschlüsse zulassen, die zu Verletzungen von Persönlichkeitsrechten führen könnten. Im Übrigen können Sie dem Beschluss die Erwägungen entnehmen, die in richterlicher Unabhängigkeit zum Erlass des Beschlusses führten.

4. Wird an einer der der Anonymisierung zum Opfer gefallen Stellen auf § 95 StPO Bezug genommen32?

Sie können der anonymisierten Fassung beispielsweise entnehmen, dass in dem Beschluss Umstände genannt sind, die die Annahme rechtfertigen, dass die Durchsuchung zum Auffinden der Gegenstände führen wird, sowie weitere Umstände, die ebenso nahelegen, dass eine Auseinandersetzung des Richters mit der Verhältnismäßigkeit des Beschlusses erfolgt ist. Die Entscheidung, ob der Erlass der Beschlüsse verhältnismäßig ist, erfolgte in richterlicher Unabhängigkeit und wird von der Pressestelle des Amtsgerichts München im Übrigen nicht kommentiert.“

Die Antwort auf die letzte Frage kann wohl dahingehend verstanden werden, daß § 95 StPO nirgends erwähnt ist – eine Prüfung, ob dieser vorrangig vor § 103 StPO anzuwenden ist, also nicht stattfand.

Stellungnahme der Partei Die Urbane.

Die Urbane., die auch den Namenszusatz „Eine HipHop Partei“ führt und die bei den Berliner Abgeordnetenhauswahlen 2017 und 2021 jeweils auf 0,2 Prozent der gültigen Stimmen kam, äußerte sich auf Anfrage nicht speziell zu den Durchsuchungsbeschlüssen gegen Nicht-Betroffen, sondern kri­tisierte die Klassifizierung der „Letzten Generation“ als möglicherweise Kriminelle Ver­einigung grundsätzlich:

„Seit Jahrzehnten müssen Schwarze Menschen und Menschen of Color mit der Angst vor rassistischem Terror leben, weil die Behörden (Polizei, etc) nicht nur nichts dage­gen unternehmen, sondern weil sie selber an diesem Terror beteiligt sind und ihn be­fördern. Und statt sich um tatsächliche kriminelle Vereinigungen zu kümmern, wird jetzt die Kriminalisierung von Klimaaktivismus zugespitzt. […]. Versteht doch mal: wir sehen den Massenmord33 an den europäischen Außengrenzen, wir sehen ununter­brochene koloniale Gewalt, Vertreibung, Verarmung und Tod durch die Klimakatastro­phe, die im sog. globalen Süden längst Realität ist, heute, jetzt gerade – ausgelöst durch deutsche und europäische Konsum- und Wirtschaftspraxis. Das Morden ist All­tag für das deutsche und europäische System. Und ihr wollt uns was über Kriminali­tät erzählen? Uns kann niemand was erzählen über Kriminalität.“

Dessen ungeachtet läßt Die Urbane. eine gewisse Distanz zu den politischen Positio­nen der „Letzten Generation“ erkennen:

„Allgemein schaut Die Urbane. Eine HipHop Partei sehr kritisch auf den weißen bür­gerlichen Klima-Aktivismus, da aus unserer Sicht Klimawandel ein Symptom von Ka­pitalismus und kolonialer Wirtschaftspraxis ist. Wir wünschen uns zivilen Ungehor­sam, der die Ursachen benennt und angreift, weil wir nicht daran glauben, dass der Klima-Aktivismus der auf deutsche Emissionen und Energieträger fokussiert, die nöti­gen Veränderungen für die Menschen herbeiführt, die jetzt schon durch den Kli­mawandel leiden und sterben. Dafür braucht es tiefgreifendere politische Transformation, die Überwindung kapitalis­tischer Praxis. Diese Menschen haben nicht die Zeit, die wir uns hier dafür nehmen, Deutschland klimaneutral zu machen, das ist am Ende eine Wohlfühl-Agenda, um sa­gen zu können, ‚wir machen alles richtig‘.“

Gleichzeitig betonen die – 2017 gegründete – Kleinpartei aber auch:

„Trotzdem stehen wir natürlich in dieser Angelegenheit auf der Seite der Aktivist*innen und warnen die staatlichen Akteur*innen: Hier wird eine Weiche gestellt. Die Komli­zenschaft in der mörderischen Alltagspraxis dieses Systems lehnen besonders die jungen Generationen ab. Nicht nur ideologisch, sondern zunehmend auch eben durch zivilen Ungehorsam. Zurecht. Wie weit will dieser Staat gehen, um das zu unterdrü­cken? Die letzte Generation ist nur der harmlose Anfang.“

Zitierte Kommentare zur Strafprozeßordnung:

HK-StPO:

Björn Gerke / Karl-Peter Julius / Dieter Temming / Mark A. Zöller, [Heidelberger Kom­mentar zur] Strafprozessordnung, Müller: Heidelberg, 20196.

Löwe34/Rosenberg35, StPO:

Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz hrsg. Jörg-Peter Becker / Volker Erb / Robert Esser / Kirsten Graalmann-Scheerer / Hans Hilger / Alexander lgnor. Dritter Band. Teilband 1, de Gruyter: Berlin/Boston, 201927.

Meyer-Goßner36/Schmitt, StPO:

Betram Schmitt unter Mitarbeit von Marcus Köhler, Strafprozessordnung. Gerichtsver­fassungsgesetz, Nebengesetze und ergänzende Bestimmungen: Beck: München, 202265.

SK-StPO:

Jürgen Wolter (Hg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung. Mit GVG und EMRK. Band II, Heymanns: Köln, 20104.

Anhang:

‚Erheblichkeit‘ der Straftaten, um die es im Zusammenhang mit § 129 StGB geht

Im Abschnitt „Kaum Unterschiede zu dem Durchsuchungsbeschluß für die Beschul­digten“ zitiere ich Rechtsanwalt Nico Werning mit folgenden Worten:

„Die Straftaten (weitestgehend Nötigung und Sachbeschädigung), die möglicherweise durch die Aktivisten begangen wurden / werden, sind unterhalb der Erheblichkeits­schwelle – überspitzt formuliert: Der Umstand, dass einige Pendler zu spät zur Arbeit kommen oder ein – auch historischer – Bilderrahmen beschädigt wird, führt nicht dazu, dass das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung bedroht wird. § 129 StGB zielt auf mafiaähnliche Strukturen ab – davon ist die Letzte Generation mE weit entfernt. Hin­zu kommt: Zwar sehen die in Bezug genommenen Strafnormen eine Höchststrafe von mehr als 2 Jahren vor und unterfallen sie damit grds. dem Gesetzeswortlaut des § 129 StGB. Der deutsche Gesetzgeber ist aber mit dieser Regelung über Rahmenbeschluss 2008/841/JI37 der EU hinausgeschossen, die mindestens eine Höchststrafe von 4 Jahren vorgesehen hat. Und zudem ist Zweck der Aktionen nicht die Begehung von Straftaten, sondern das Aufmerksam-machen auf die Klimaprobleme, die für jedermann offenkundig sind (vgl. § 129 Abs. 3 Nr. 2 StGB).“

Für die Allgemeinverständlichkeit dürfte erforderlich sein, folgende Erläuterungen zu ergänzen:

§ 129 des deutschen Strafgesetzes war 2017 aufgrund von EU-Recht umformuliert worden – dies betraf vor allem zwei Punkte:

  • Bis dahin war der Begriff „Vereinigung“ im Strafgesetzbuch gar nicht definiert, sondern die Definition von der Rechtsprechung entwickelt worden. 2017 wurde dann – aufgrund EU-rechtlicher Vorgaben – eine Definition ins Gesetz ge­schrieben. Diese Definition, die von der EU zu übernehmen war, ist etwas wei­ter als die bisherige deutsche, gerichtliche Definition.38

  • Im Gegenzug sind nunmehr nur noch solche Vereinigungen vom Begriff der „Kriminellen Vereinigung“ umfaßt, „deren Zweck oder Tätigkeit auf die Bege­hung von Straftaten gerichtet ist, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von min­destens zwei Jahren bedroht sind“ (vorher war keine Mindest-Höchststrafe sta­tuiert – es kamen also alle Arten von Straftaten in Betracht) – mit EU-Recht wäre allerdings auch vereinbar ausschließlich Straftaten, für die eine Höchststrafe von mindestens vier Jahren angedroht ist, zu berücksichtigen.

Die Schwierigkeit liegt nun in Folgendem:

  • Vor der Änderung aus dem Jahre 2017 verlangte der BGH – unter Berufung auf eine Entscheidung bereits des Reichsgerichts zum (damals noch anders formulierten) § 129 StGB39 – „daß es bei der Verfolgung ihrer [der Vereinigung] Pläne – nicht nur gelegentlich oder beiläufig (vgl. hierzu § 129 Abs. 2 Nr. 2 StGB) – zur Begehung erheblicher Straftaten kommen kann und daß sie dies auch wollen (vgl. RGSt 54, 10240, 104)“41.

  • Es stellt sich nun die Frage, ob die Gesetzgebungsorgane dadurch, daß sie 2017 die Mindest-Höchststrafe von 2 Jahren ins Gesetz geschrieben, nicht be­reits festgelegt haben, was im Sinne des § 129 StGB „erhebliche“ Strafsachen sind (und ob das dann etwaigen verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Strafrecht genügt).

  • Die Gesetzgebungsorgane waren dagegen aber wohl der Ansicht, daß die Er­heblichkeits-Schwelle neben neuen Mindest-Höchststrafen von Bedeutung bleiben sollen; im Gesetzesentwurf der Bundesregierung hieß es damals:

    „Aus dem Schutzzweck der Norm, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und der Be­deutung von § 129 StGB als Katalogtat für bestimmte strafprozessuale Möglichkei­ten folgt darüber hinaus, dass die von der Vereinigung geplanten oder begangenen Straftaten eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit bedeuten und unter diesem Gesichtspunkt von einigem Gewicht sein müssen (so LK-Krauß, 12. Aufla­ge, § 129 Rn. 58 unter Berufung auf die Rechtsprechung zu dem bisherigen § 129 StGB und m. w. N.).“ (https://dserver.bundestag.de/btd/18/112/1811275.pdf, S. 11)

    Der Rechtsausschuß des Bundestages hatte keine Änderungen an dem Ent­wurf der Bundesregierung vorgenommen und folglich auch keine eigene (aus­führliche) Begründung geschrieben: https://dserver.bundestag.de/btd/18/126/1812608.pdf, sodaß anzunehmen sein dürfte, die Mehrheit des Rechtsausschusses des Bundestages (und des Bun­destages, die den Gesetzentwurf schließlich – ebenfalls unverändert – verab­schiedete) habe die Auffassung der Bundesregierung geteilt.

  • Das Amtsgericht München bestreitet nun allerdings eh nicht, daß das Erheb­lichkeits-Kriterium weiterhin eine Rolle spielt – sondern sieht es (wenn auch ohne Begründung) im Fall „Letzte Generation“ als gegeben an. Am Ende von Abschnitt I. sowohl des Durchsuchungsbeschlusses für die Beschuldigten als auch des Beschlusses für die Nicht-Beschuldigten heißt es zwar scheinbar re­sümierend: „Damit geht von der Vereinigung ‚Die Letzte Generation‘ insgesamt eine erhebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit aus.“

    Aber diesem ‚Resümee‘ geht keine Definition von „erhebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit“, unter die dann Sachverhalts-Elemente Schritt für Schritt subsumiert würde, voraus. Das heißt: Das vermeintliche Resümee ist gar kein Resümee einer Argumentation, sondern eine bloße Behauptung.42

  • Schließlich ist noch zu beachten, daß auch der Bundesgerichtshof – jedenfalls zeitweilig oder politisch selektiv43 (das läßt sich nicht genau sagen) – sehr leicht dabei war (und künftig vielleicht auch wieder dabei sein wird), die ‚Erheb­lichkeit‘ der Straftaten zu bejahen. So verurteilte der BGH 1975 – auf Revision der Staatsanwaltschaft und im Unterschied zur Vorinstanz – Hausbesetzer(In­nen?) nicht nur wegen Hausfriedensbruch, Landfriedensbruch und teilweise weiteren Delikten, sondern auch wegen „Unterstützung einer kriminellen Verei­nigung“. Um eine solche soll es sich „jedenfalls hinsichtlich der Kerngruppe“ der BesetzInnen nach Ansicht des BGH gehandelt haben – als Unterstützer(Innen?) dieser Kerngruppe wurden die Angeklagten vom BGH verurteilt.

    Zur Begründung führte der BGH aus:

    „Die Zwecke der Vereinigung waren auch, wie die Staatsanwaltschaft mit Recht gel­tend macht, darauf gerichtet, Straftaten mit erheblichem Unrechtsgehalt zu bege­hen. Diese waren von vornherein geplant und wurden zudem zum Teil auch ausge­führt. Daß die Begehung von Straftaten nicht der Endzweck der Vereinigung war, ist unerheblich. […]. Das Verhalten der Hausbesetzer erfüllte zwar zunächst – nur – den Tatbestand des Hausfriedensbruchs. Es erschöpfte sich aber nicht darin; die nach der Besetzung getroffenen Vorbereitungen zeigen vielmehr, daß erhebliche, weitere Straftaten geplant waren, denen das Landgericht einen falschen Stellenwert und eine zu geringe Bedeutung beimißt. Die Besetzer waren fest entschlossen, sich im unrechtmäßigen Besitz des Hauses zu erhalten, und zwar gegebenenfalls durch tätlichen Widerstand gegen die Staatsorgane. So hatten sie umfangreiche, bis zur Gefährdung fremden Lebens gehende Vorkehrungen getroffen, mit denen einem Eingriff der Polizei gewaltsam begegnet werden sollte. Dazu hatten sie nicht nur Tü­ren und Fenster mit Balken, Brettern und Maschendraht verbarrikadiert und die Treppe mit einem spanischen Reiter gesperrt; sie hatten darüber hinaus auch le­bensgefährdende Angriffswaffen in Form von halbierten Feld- und Ziegelsteinen, die als Wurfgeschosse Verwendung finden sollten, bereitgelegt. Als weitere gefährliche Waffen befanden sich in den Räumen Katapulte mit Glas- und Stahlkugeln, die ebenfalls geeignet waren, erhebliche Verletzungen zuzufügen (UA S. 9). Ein im zweiten Stockwerk gelegenes Zimmer war als ‚Hauptverbandsplatz‘ hergerichtet. Die Errichtung eines Wachpostendienstes und einer Funkzentrale als Alarm-, Nach­richten- und Führungsorgane runden das Bild entschlossener Kampfbereitschaft ab. Alle diese Vorkehrungen zeigen, daß die Hausbesetzer sich auf einen großen Kampfeinsatz eingestellt hatten und willens waren, einen solchen durchzustehen. Sie haben damit über das einen geringeren Unrechtsgehalt aufweisende Delikt des Hausfriedensbruchs hinaus schwerwiegende Straftaten wie gefährliche Körperver­letzung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Sachbeschädigung von vorn­herein eingeplant und vorbereitet. Diese sollten ihnen ebenfalls als Mittel zu dem Ziel, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen, dienen. Sie sind daher ge­genüber dem Hausfriedensbruch nicht von untergeordneter Bedeutung, vielmehr kam gerade ihnen ein erheblicher eigener Demonstrationswert zu. Ohne sie wäre das Interesse der Öffentlichkeit an der Hausbesetzung bald erloschen.“ (BGH, Urteil vom 12.02.1975 zum Aktenzeichen 3 StR 7/74 I; https://research.wolterskluwer-online.de/document/d463b20b-b3b4-4abb-bd03-14c320bd21ed, Textziffer 8 und 9)

    Auch § 129 Absatz 2 Nr. 2 StGB stehe – anders als die Vorinstanz (Landgericht Hamburg) – meinte der Klassifizierung jener Kerngruppe als Kriminelle Vereini­gung nicht entgegen:

    „Im Hinblick hierauf sind auch die aus § 129 Abs. 2 Nr. 2 StGB hergeleiteten Beden­ken der Strafkammer gegen eine Anwendung des Absatzes 1 dieser Vorschrift nicht gerechtfertigt. Die Beurteilung des Verhaltens der Hausbesetzer durch das Landge­richt wird der Bewertung des gesamten Vorganges als einer massiven Beeinträchti­gung der inneren Sicherheit nicht gerecht. Zwar wollte der Gesetzgeber im Zuge der teilweisen Neuregelung der Staatsschutzdelikte durch das Vereinsgesetz vom 5. Au­gust 1964 (BGBl I, S. 593) mit der Einfügung des Absatzes 2 Nr. 2 den Anwen­dungsbereich des § 129 StGB begrenzen, eine Regelung, bei der vor allem an die Betätigung von und für Vereinigungen politischen Charakters gedacht war. Deren Anhänger sollten nicht schon unter der Strafandrohung des § 129 StGB stehen, wenn sie in Verfolgung ihrer Ziele häufiger vorkommende strafbare Handlungen von geringer Bedeutung, wie etwa Sachbeschädigungen und Körperverletzungen anläß­lich von Versammlungen, begingen (vgl. den Schriftlichen Bericht des Ausschusses für Inneres [6. Ausschuß] über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Vereinsgesetzes – Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, Drucks. IV/214544 [neu] S. 8 –, der sich insoweit auf ein Schreiben des Vorsitzenden des Sonderaus­schusses Strafrecht des Deutschen Bundestags vom 6. März 1964 stützt). Von geringfügigen strafbaren Handlungen dieser Art kann jedoch hier keine Rede sein. Das Vorgehen der Hausbesetzer war nämlich nicht auf die Begehung mehr oder minder unbedeutender Straftaten beschränkt, sondern vielmehr auf die Vorbereitung und die Durchführung strafbarer Handlungen von erheblichem Gewicht gerichtet. Wie die getroffenen Maßnahmen deutlich erkennen lassen, sollte dem erwarteten Eingreifen der Polizei mit massiver Gewalt begegnet werden. Bei einer solchen Sachlage ist für eine Anwendung des § 129 Abs. 2 Nr. 2 StGB kein Raum.“ (ebd., Textziffer 11)
  • Nun werfen die AktivistInnen der „Letzten Generation“ zwar weder mit Steinen noch verschießen sie Stahl- und Glaskugeln mit Zwillen und das zitierte BGH-Urteil wurde auch nicht richtungsweisende für spätere Verfahren gegen militan­te HausbesitzerInnen, aber das Amtsgericht München suggeriert – ohne es ausdrücklich zu behaupten – die „Letzte Generation“ sei auch für Körperverlet­zung verantwortlich und verursache zumindest Lebensgefahren:

    „eine ölartige Flüssigkeit [wurde] auf der Fahrbahn verteilt, wodurch vier Radfahrer stürzten und sich zum Teil verletzten. Insgesamt wurden fast 200 Personen festge­nommen und etwa 140 Ermittlungsverfahren eingeleitet, unter anderem wegen Nöti­gung, gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, Körperverletzung und Sachbe­schädigung. […]. Am 31. Oktober 2022 führten Aktivisten an mehreren Stellen, dar­unter auch an der Stadtautobahn 100, in Berlin Straßenblockaden durch, was zu Verkehrsstaus führte. Ein spezielles Rettungsfahrzeug der Feuerwehr traf aufgrund der Blockade der Berliner Stadtautobahn A 100 verspätet an einem Unfallort ein, an dem ein schwerverletztes Unfallopfer zu versorgen war. Das Unfallopfer verstarb am 3. November 2022 an den Unfallfolgen.“

Es sind also mehrere Problem-Ebenen zu unterscheiden:

  • Die Frage der (Fort-)Geltung des Erheblichkeits-Kriterium aus der BGH-Recht­sprechung von 2017.

  • Das Problem, daß dieses Kriterium auch beim BGH selbst nicht zu berechen­baren Ergebnissen führt (um die Rechtssicherheit ist es also schlecht bestellt).

  • Das Problem, daß das Amtsgericht München zwar behauptet, die Erheblichkeit der Straftaten sei im Fall der „Letzten Generation“ gegeben, aber diese Auffas­sung nicht (im Wege sorgfältiger Subsumtion45) begründet.

  • Das grundsätzliche (auch verfassungsrechtliche46) Problem von Vereinigungs­delikten, daß sie eine Vorverlagerung der Strafbarkeit bedeuten (weil bereits die mitgliedschaftliche Betätigung [egal in welcher Form] in solchen Vereinigun­gen, die bloße Unterstützung solcher Vereinigungen und teilweise auch die Werbung um Mitglieder und UnterstützerInnen solcher Vereinigungen strafbar sind und nicht erst die Verwirklichung sonstiger – konkreten – Straftatbestände) und die an die §§ 129 bis 129b StGB geknüpften zusätzlichen Ermittlungskom­petenzen. So ermöglicht – um nur ein Beispiel zu nennen – § 100a StPO Tele­kommunikationsüberwachungsmaßnahmen zwar unter anderem bei Verdacht auf Straftaten nach § 129 StGB, aber nicht bei bloßem Verdacht auf Nötigung oder Sachbeschädigung.

    In diesem Kontext hatte ich die Generalstaatsanwaltschaft München am 26. Mai gefragt:

    „Wurden neben den Durchsuchungen weitere Ermittlungsmaßnahmen, die einer ge­richtlichen Genehmigung bedürfen, von Ihnen beantragt und im Falle der etwaigen Genehmigung durchgeführt?“

    Auf diese und andere damals gestellte Fragen erhielt ich aber nur folgende Pauschal-Antwort:

    „Im Übrigen darf ich Sie um Verständnis bitten, dass aufgrund der laufenden Ermitt­lungen derzeit keine weiteren Auskünfte erteilt werden können.“

    Ob ich wohl eine dermaßen ausweichende Antwort nach „weitere[n] Ermitt­lungsmaßnahmen, die einer gerichtlichen Genehmigung bedürfen,“ auch dann erhalten hätte, wenn meine Frage der Sache nach zu verneinen wäre…? Oder können wir in der gegebenen Antwort eine implizite Bejahung sehen?

Beschluß des Landgerichts Berlin vom 31.05.2023 zum Aktenzeichen 502 Qs 138/22, S. 2 bis 7: Klebe-Sitzblockade für Klimaschutz zwar „Gewalt“ im Sinne sog. ‚Zweite-Reihe-Rechtsprechung‘ des Bundesgerichtshofs, aber nicht „verwerflich“ im Sinne des § 240 Absatz 2 Strafgesetzbuch47

„Sie [Die Staatsanwaltschaft] legte dem Angeschuldigten zur Last, sich am 30. Juni 2022 zwischen 8.50 Uhr und 9.05 Uhr mit fünf weiteren Mittätern an einer Straßenblockade der Gruppierung ‚Aufstand der letzten Generation‘ beteiligt und sich aufgrund eines zuvor gefassten gemeinsamen Tatplans auf die Fahrbahn einer vielbefahrenen Straße gesetzt zu haben, um so die auf der betreffenden Straße befindlichen Fahrzeugführer bis zur Räumung der Blockade durch die Polizeivollzugsbeamten an der Fortsetzung ihrer Fahrt zu hindern. Es sei – wie von dem Angeschuldigten beabsichtigt – aufgrund der Blockade bis zu deren Auflösung zu einer erheblichen Verkehrsbeeinträchtigung in Form eines Rückstaus zahlreicher Fahrzeuge gekommen. […].

Das Amtsgericht hat zu Recht einen hinreichenden Tatverdacht wegen (gemeinschaftlicher) Nötigung abgelehnt. […].

Eine Straßenblockade – wie hier durch den Angeschuldigten und seine Mittätern verursacht – stellt nach der sog. ‚Zweite-Reihe-Rechtsprechung‘ des BGH (Urteil vom 20.07.1995 – 1 StR 126/9548) zwar Gewalt im Sinne des § 240 Abs. 1 StGB dar. […]. Die Tat ist jedoch als nicht rechtswidrig anzusehen. Gemäß § 240 Abs. 2 StGB ist eine Nötigung rechtswidrig, wenn die Anwendung der Gewalt zum angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Im Rahmen der Verwerflichkeitsprüfung ist in der vorzunehmenden, am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierten, Zweck-Mittel-Relation insbesondere die Art und das Maß der Auswirkungen auf betroffene Dritte und deren Grundrechte zu berücksichtigen. Konkret bei Straßenblockaden sind hierbei wichtige Abwägungselemente die Dauer und die Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten für betroffene Fahrer, die Dringlichkeit des blockierten Transports bzw. der blockierten Fahrt, aber auch der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand. Das Gewicht solcher demonstrationsspezifischer Umstände ist mit Blick auf das kommunikative Anliegen der Versammlung zu bestimmen, ohne dass dem Strafgericht eine eigene Bewertung zusteht, ob es dieses Anliegen als nützlich und wertvoll einschätzt oder es missbilligt (BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001 – 1 BvR 1190/90 –, BVerfGE 104, 92-126, Rn. 6449). Vorliegend ist zunächst festzuhalten, dass zugunsten des Angeschuldigten der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 Abs. 1 GG eröffnet ist. […].

Die mit der Ausübung des Versammlungsrechts häufig unvermeidbare Behinderung Dritter und Zwangswirkungen sind grundsätzlich durch das Versammlungsrecht gerechtfertigt, soweit sie als sozial-adäquate Nebenfolgen mit rechtmäßigen Demonstrationen verbunden sind. Dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit kommt hier besondere Bedeutung zu, wobei der Träger des Grundrechts selbst über Art und Umstände der Ausübung seines Grundrechts bestimmen kann (BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001 a. a. O.). […].

Hinsichtlich Dauer und Intensität der Auswirkungen ist zu berücksichtigen, dass einerseits eine sehr große Zahl an Verkehrsteilnehmern betroffen war und dass andererseits die konkreten Auswirkungen sich in einem überschaubaren Umfang hielten. […]. Denn bis zur vollständigen Auflösung der Versammlung und Freigabe der Fahrspuren ist ein Zeitraum von lediglich ca. 35 Minuten vergangen, was hinsichtlich der üblichen Stauzeiten in Berlin aufgrund verschiedenster Ursachen als moderat bezeichnet werden kann. […].

Der Umstand, dass der Angeschuldigte und seine Mittäter die Versammlung entgegen § 12 VerFG BE nicht angemeldet haben, fällt bei der Abwägung nicht wesentlich ins Gewicht. Zwar sind Versammlungen unter freiem Himmel – wie die hiesige Sitzblockade – grundsätzlich nach dieser Vorschrift anmeldepflichtig. Allerdings handelt es sich hierbei um eine reine Ordnungsvorschrift, die nicht Rechtsmäßigkeitsvoraussetzung für die Versammlung ist (vgl. Peters/Janz VersammlungsR-HdB, F. Versammlungsrechtliche Pflichten und Verbote Rn. 29, beck-online). Um den Schutzzweck der Versammlungsfreiheit nicht zu unterlaufen, darf eine Versammlung etwa auch nicht allein aufgrund des Umstands, dass gegen die Anmeldepflicht verstoßen wurde, aufgelöst werden (vgl. BVerfG 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81, Beschluss vom 14. Mai 1985/ BVerfGE 69, 315 Rn. 7450). […].

Ein Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand ist gegeben. Der Angeschuldigte und seine Mittäter legten nach Aktenlage unter anderem Transparente mit der Aufschrift ‚Öl sparen statt Bohren‘ aus, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen. Ihr Protest richtete sich mithin gegen die Gewinnung von Energie aus fossilen Brennstoffen, konkret auch den Energieverbrauch durch den motorisierten Straßenverkehr, welcher ganz überwiegend noch mit Kraftstoffen auf Erdölbasis betrieben wird.“

Angemerkt sei, daß meines Erachtens schon die weite Definition von „Gewalt“ im Rahmen der sog. ‚Zweite-Reihe-Rechtsprechung‘ des BGH verfehlt ist und die Verwerflichkeits-Prüfung im Sinne von § 240 Absatz 2 Strafgesetzbuch daher allenfalls eine Notlösung ist.

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1 § 103 Absatz 1 Satz 2 StPO lautet dagegen: „Zum Zwecke der Ergreifung eines Beschuldigten, der drin­gend verdächtig ist, eine Straftat nach § 89a oder § 89c Absatz 1 bis 4 des Strafgesetzbuchs oder nach § 129a, auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1, des Strafgesetzbuches oder eine der in dieser Vorschrift be­zeichneten Straftaten begangen zu haben, ist eine Durchsuchung von Wohnungen und anderen Räumen auch zulässig, wenn diese sich in einem Gebäude befinden, von dem auf Grund von Tatsachen anzuneh­men ist, daß sich der Beschuldigte in ihm aufhält.“ (Hv. hinzugefügt)

Von Vorwürfen nach § 89a (Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat) oder § 89c Absatz 1 bis 4 (Terrorismusfinanzierung) des Strafgesetzbuchs oder nach § 129a (Bildung terroristischer Vereinigungen), auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1 (Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland; Einziehung) gegen vermeintliche Mitglieder und UnterstützerInnen der „Letzten Generation“ ist aber nichts bekannt; auch kam es bei den Durchsuchungen – soweit bekannt – zu keinen Festnahmen.

(Die Formulierung „in Verbindung mit“ bedeutet, daß es – soweit es § 103 Absatz 1 Satz 2 StPO anbelangt – auch im Zusammenhang mit § 129b ausschließlich um Terroristische Vereinigungen geht – und zwar sol­che im Ausland; aber nicht um bloß Kriminelle Vereinigungen im Ausland.)

2 Der Terminus „Beweismittel“ aus § 102 StPO wird (ungefähr) als Oberbegriff für die Begriffe „Spuren“ und „Gegenstände“ in § 103 Absatz 1 Satz 1 StPO verstanden (Tsambikakis, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 201927; § 102, Randnummer 21), wobei „Spuren […] Beweismittel [sind], die nicht beschlagnahmt werden können. Ihr sachlicher Gehalt wird durch die ermittelnden Beamten in Aktenvermerken, fotografisch oder in sonstiger Weise festgehalten.“ (ebd.). Allerdings ist zu beachten, daß auch Sachen durchsucht werden dür­fen, „die keine Beweismittel sind, aber solche enthalten oder auf solche hinweisen“ (ebd., Randnummer 22)

„Zu den Beweismitteln“ im Sinne des § 102 StPO „gehören auch die nur in § 103 erwähnten Spuren“ (Köh­ler, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 202265, § 102, Randnummer 13).

„Die Suche nach Spuren wird in § 102 zwar nicht ausdrücklich erwähnt, wird aber nach allgemeiner Ansicht durch die Alternative der Durchsuchung ‚zur Auffindung von Beweismitteln‘ abgedeckt.“ (Wohlers; in: Wol­ter, SK-StPO, 20104, § 102, Randnummer 21)

3 „Im Hinblick auf die Auffindungsvermutung sind die Anforderungen im Rahmen des § 102 geringer als bei § 103. Während dort eine gesicherte Tatsachengrundlage dafür vorhanden sein muss, dass der Durchsu­chungszweck erreicht wird (vgl. § 103 Rn. 15), sind im Rahmen des § 102 konkretisierte Tatsachen nicht erforderlich.“ (Wohlers; in: Wolter, SK-StPO, 20104, § 102, Randnummer 18)

Mit anderen Worten: Im Rahmen von § 103 (also in Bezug auf Durchsuchungen bei Nicht-Beschuldigten) sind die Anforderungen strenger. „Der Grund für diese Ungleichbehandlung liegt darin, dass einem Ver­dächtigen aufgrund des gegen ihn bestehenden Tatverdachts größere Opfer bei der Aufklärung dieses Tat­verdachts abverlangt werden können als den Personen, die selbst nicht tatverdächtig sind“ (ebd., § 103, Randnummer 1).

4 Vgl. BGH, Beschluß vom 05.06.2019 zum Aktenzeichen StB 6/19; http://www.rechtsprechung-im-internet.de/jportal/portal/t/19ke/page/bsjrsprod.psml?pid=Dokumentanzeige&showdoccase=1&fromdoctodoc=yes&doc.id=jb-KORE626292019, Textziffer 13: „Es müssen konkrete Gründe dafür sprechen, dass der gesuchte Beweisgegenstand in den Räumlichkei­ten des Unverdächtigen gefunden werden kann. Dies unterscheidet die Durchsuchung beim Unverdächti­gen nach § 103 StPO von einer Durchsuchung bei einer verdächtigen Person nach § 102 StPO, bei der es bereits nach der Lebenserfahrung in gewissem Grade wahrscheinlich ist, dass Beweisgegenstände zu fin­den sind, die zur Prüfung des Tatverdachts beitragen können, und bei der durch die Verknüpfung des per­sonenbezogenen Tatverdachts mit einem eher abstrakten Auffindeverdacht ein hinreichender Eingriffsan­lass besteht“.

5 „Soweit die Daten der Erwerber betroffen sind, an welche die Angeschuldigten über die Beschwerdefüh­rerin Bücher verkauften, hat der Generalbundesanwalt nach der plausiblen Darlegung der näheren Um­stände dieser Verkäufe durch die Beschwerdeführern in der Zwischenzeit eingeräumt, dass diesen keine Beweisbedeutung für das vorliegende Verfahren zukommt. Die Durchsuchung zu dem Zweck, diese Da­ten sicherzustellen, erweist sich danach als nicht durch § 103 StPO gedeckt“ (BGH, Beschluß vom 09.04.2009 zum Aktenzeichen StB 6/09; http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&nr=47832&anz=1&pos=0&Frame=4&.pdf, S. 4 f., Textziffer 6; Hv. hinzugefügt)

6 Beschluß vom 18.11.2021 zum StB 6/21, StB 7/21, in: Neue Juristische Wochenschrift 2022, 795 - 798 (797); http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&nr=125038&anz=1&pos=0&Frame=4&.pdf, S. 9 f., Textziffer 15.

7 „Die Durchsuchung bei einem Nichtbeschuldigten, der durch sein Verhalten auch aus Sicht der Ermitt­lungsbehörden in keiner Weise Anlass zu den Ermittlungsmaßnahmen gegeben hat, stellt erhöhte Anforde­rungen an die Prüfung der Verhältnismäßigkeit (vgl. auch Nack, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 5. Aufl. <2003>, § 103 Rn. 12; Meyer-Goßner, a.a.O. [StPO, 48. Aufl. <2005>], § 103 Rn. 1).“ (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2006/07/rk20060703_2bvr029906.html, Textziffer 30)

8 Siehe meine in die zweitere Richtung gehende Antwort in meinem Text: Demokratie- und Rechtstheoreti­sches zur „Verhältnismäßigkeit“; https://web.archive.org/web/20210121155700/http://tap2folge.blogsport.eu/2021/01/15/demokratie-und-rechtstheoretisches-zur-verhaeltnismaessigkeit/ (Vorbemerkung) / Aus aktuellem Anlaß: Eine grundsätzli­che Anmerkung zur „Verhältnismäßigkeit“; https://web.archive.org/web/20210126062825/https://links-wieder-oben-auf.net/wp-content/uploads/2021/01/Verhaeltnismaessigkeits-Kritik.pdf (20 Seiten).

9 In dieser Entscheidung ging es noch nicht um eine Durchsuchung; auch enthielt sie keine Begründung für das allgemeine Verhältnismäßigkeits-Postulat.

10 Die Grundrechte dürfen, so das Bundesverfassungsgericht dort, „als Ausdruck des allgemeinen Frei­heitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat von der öffentlichen Gewalt jeweils nur so weit be­schränkt werden […], als es zum Schutz öffentlicher Interessen unerläßlich ist“.

Das mag sich ja sehr schick anhören, solange es um politische Freiheitsrechte geht, aber DemokratInnen sollten sich auch überlegen, ob es (Verfassungs)Gerichten oder vielmehr – direkt-demokratischen legiti­mierten – Parlamenten obliegt, das „öffentlicher Interessen“, das nämlich kein objektives, sondern ein poli­tisch umstrittenes ist, zu definieren. Und Linke sollten sich überlegen, ob sich die BVerfG-Formel auch dann noch so schick anhört, wenn es nicht um politische, sondern um ökonomische Freiheiten geht.

11 Vgl. noch einmal das weiter oben bereits angeführte BVerfG-Zitat: „nicht verdächtigen Person, die durch ihr Verhalten auch aus Sicht der Ermittlungsbehörden in keiner Weise Anlass zu den Ermittlungsmaßnah­men gegeben hat“.

12 Vgl. dazu – sogar für den Fall eines Beschuldigten –: „Der Beschwerdeführer hat in der Berufungs­hauptverhandlung behauptet, zu diesem Zeitpunkt die relevanten Bücher selbst noch zu besitzen. Auf die­ser Grundlage wäre der Zweck der angegriffenen Durchsuchung, verwertbare und verfahrenserhebliche Beweismittel zu erlangen, auch durch die im Verhältnis zur Durchsuchung mildere Aufforderung an den Be­schwerdeführer erreichbar gewesen, dem Gericht die Bücher zeitnah vorzulegen.“ (Beschluß vom 29.11.2004 zum Aktenzeichen 2 BvR 1034/02; https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2004/11/rk20041129_2bvr103402.html, Textziffer 24)

16 „Wer einen Gegenstand der vorbezeichneten Art in seinem Gewahrsam hat, ist verpflichtet, ihn auf Er­fordern vorzulegen und auszuliefern.“ (https://www.gesetze-im-internet.de/stpo/__95.html; Hv. hinzugefügt)

17 „Dient die Durchsuchung der Auffindung bestimmter Beweismittel, muss der Betroffene vor der Durchsu­chung zur freiwilligen Herausgabe der Gegenstände aufgefordert und ihm dadurch Gelegenheit gegeben werden, die Durchsuchung abzuwenden; ohne eine solche Aufforderung ist die Durchsuchung rechtswid­rig.“ (Tsambikakis, a.a.O. [FN 2], Randnummer 8)

Diese Formulierung läßt aber die entscheidende Frage gerade offen – nämlich die, ob eine Aufforderung unmittelbar vor Vollziehung des – bereits erlassenen – Durchsuchungsbeschlusses genügt oder ob die Auf­forderung vielmehr auch dem Erlaß des Durchsuchungsbeschlusses vorauszugehen hat (hinsichtlich der Wichtigkeit der Betonung dieses Unterschiedes ist Lutz Niemann [Zur Verhältnismäßigkeit der Durchsu­chung von Anwaltskanzleien, Banken und Behörden, in: wistra 2021, 13 - 17 <14, re. Sp. Mitte: „sind ‹….› zwei Fragen zu unterscheiden“>] zuzustimmen, der allerdings sehr leicht damit zur Hand zu sein scheint, Nicht-Beschuldigten ein Beweisunterdrückungs-Interesse zu unterstellen; siehe kritisch dazu: Rainer Hamm, Grundrechtseingriffe durch Wechsel der Sprachebene, in: ebd., 17 - 20).

18 Bei der Angabe „OLG Hamm“ handelt es sich um einen Fehler; an der fraglichen Stelle beginnt keine Entscheidung des Oberlandsgerichts Hamm, sondern der – in vorstehender FN genannte 7 – Aufsatz von Rainer Hamm.

19 http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&nr=125038&anz=1&pos=0&Frame=4&.pdf, S. 11, Textziffer 17.

Im konkret entschiedenen Fall war – nach plausibler – BGH-Ansicht ein Verdunkelungsinteresse des Nicht-Beschuldigten aber naheliegend: Er hatte schon bei einer vorherigen Vernehmung bekundet, „kein Spitzel der Polizei“ werden zu wollen, und nach der Vernehmung zu dem Beschuldigten gesagt: „wenn alle dicht­halten, kommt eh nichts raus“. (Der Tatverdacht gegen den Beschuldigten bezog sich auf einen Brandan­schlag auf ein Flüchtlingsheim. Die Annahme eines Verdunkelungsinteresses kann in dem Fall also jeden­falls nicht auf eine vermeintliche oder tatsächliche anti-linke bias des BGH geschoben werden.)

20 Diese Rechtsauffassung wird in dem Beschluß unabhängig von der weiteren – in dem Beschluß zuvor ausgeführten – Rechtsauffassung vertreten, daß die fraglichen Unterlagen (die Urschriften einer notariellen Urkunde ohnehin nicht hätten beschlagnahmt [und folglich auch nicht hätten gesucht] werden dürfen.

21 „Befinden sich die Gegenstände in dem Gewahrsam einer Person und werden sie nicht freiwillig heraus­gegeben, so bedarf es der Beschlagnahme.“

22 „Bei Mitbenutzung oder Mitgewahrsam mehrerer Personen, von denen nur ein Teil verdächtig ist, gilt […] § 102.“ (Tsambikakis, a.a.O. [FN 2], Randnummer 38).

„hiernach [§ 102 StPO] muss der Verdächtige Allein- oder Mitbesitzer der zu durchsuchenden Räumlichkei­ten sein (vgl. Nack, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 5. Aufl., § 102 Rn. 8).“ (BVerfG, Beschluß vom 09.02.2005 zum Aktenzeichen 2 BvR 984/04; https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2005/02/rk20050209_2bvr098404.html, Textziffer 36). „Bei Mitbenutzung oder Mitgewahrsam mehrerer Personen, von denen nur ein Teil verdächtig ist, gilt daher § 102 StPO“ (BVerfG, Beschluß vom 09.08.2019 zum Ak­tenzeichen 2 BvR 1684/18; http://www.rechtsprechung-im-internet.de/jportal/portal/t/19ke/page/bsjrsprod.psml?pid=Dokumentanzeige&showdoccase=1&fromdoctodoc=yes&doc.id=jb-KVRE432381901, Textziffer 33).

23 Tsambikakis, a.a.O. (FN 2), Randnummer 39.

24 ebd.; Hv. hinzugefügt.

26 Vgl. dazu auch: „Die Verwendung von Formularen verleitet zu einer oberflächlichen Darlegung der Durchsuchungsvoraussetzungen durch den Richter. […]. Ergeht eine formularmäßige Begründung […] ohne Einzelfallbezug, fehlt es in der Regel an einer eigenverwortlichen Prüfung.“ (Tsambikakis, a.a.O. [FN 2], § 105, Randnummer 46 unter Hinweis auf:

  • BVerfG StV 2002, 345 (346): „Die formularmäßige Fassung der Beschlussbegründung ohne einzel­fallbezogenen Hinweis lässt […] besorgen, dass eine eigenverantwortliche richterliche Prüfung zur Erfüllung der Rechtsschutzfunktionen des Richtervorbehalts gemäß Art. 13 Abs. 2 GG nicht statt­gefunden hat. Andeutungen dazu, dass die Frage der Verhältnismäßigkeit des schwer wiegenden Eingriffs im Einzelfall vom Richter in eigener Verantwortung geprüft wurde, sind dem Beschluss nicht zu entnehmen.“ (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2002/03/rk20020306_2bvr161900.html, Textziffer 19)

    Auch wenn der „Antrag der zuständigen Ermittlungsbehörde auf Erlass einer richterlichen Durchsu­chungsanordnung […] nähere Angaben zum Tatvorwurf“ enthält, enthebt dies „den Richter bei des­sen eigenverantwortlicher Prüfung nicht der Aufgabe, eine Kontrolle der Eingriffsvoraussetzungen vorzunehmen und eigene Anweisungen zur Eingriffsbegrenzung in den Beschlusstext aufzuneh­men“ (ebd., Textziffer 20; siehe zur „eigenverantwortliche richterliche Prüfung der Eingriffsvoraus­setzungen“ auch bereits Textziffer 15).

  • BVerfG StV 2003, 203 (204): https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2002/12/rk20021205_2bvr102802.html, Textziffer 11 und 15

28 zu den Nicht-Beschuldigten; die selbe Formulierung findet sich auf S. 3 des Beschlusses in Bezug auf die Beschuldigten.

29 https://lexparency.de/eu/32008F0841/ART_1/. – Den Mitgliedstaaten ist durch EU-Recht nur vorge­schrieben, was sie mindestens unter dem Begriff der Kriminellen Vereinigung fassen müssen; sie sind da­gegen von EU-Recht nicht gehindert gehindert, repressivere Regelung zu verabschieben. Im sog. Erwä­gungsgrund 4 des Rahmenbeschlusses heißt: „Die aus Artikel 2 Buchstabe a erwachsenden Verpflichtun­gen sollten nicht das Recht der Mitgliedstaaten berühren, andere Gruppen von Personen, […], als kriminel­le Vereinigungen einzustufen.“ (https://lexparency.de/eu/32008F0841/PRE/)

Daß die deutschen Gesetzgebungsorgane über das von EU vorgeschriebene Mindestmaß an Repression hinausgehen, kann genauso wie die EU-Regelung politisch kritisiert werden, aber verstößt nicht gegen EU-Recht; die Frage, ob es gegen deutsches Verfassungsrecht verstößt, muß an dieser Stelle ausgespart blei­ben, um den Artikel nicht noch länger zu machen.

30 Hv. hinzugefügt.

31 BVerfG, Beschluß vom 18.03.2009 zum Aktenzeichen 2 BvR 1036/08; https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2009/03/rk20090318_2bvr103608.html, Textziffer 66.

33 Zu dem Wort „Massenmord“ enthält die Antwort folgende Erläuterung: „das ist nicht einfach so daher gesagt. Das Motiv der Abschottung ist Habgier (Aufrechterhaltung kolonialer Besitzverhältnisse) und das ‚Ertrinken lassen‘ ist einkalkuliert und hat somit System. Es handelt sich NICHT nur um unterlassene Hilfe­leistung, da wir es nicht mit einem Einzelfall zu tun haben.“

34 Ewald Löwe (1837 - 1896): Erstbearbeiter des Kommentars.

35 Werner Rosenberg (1859 - 1930): Bearbeiter der 13. (1913) bis zur 18. Auflage (1929) des Kommentars (https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Werner_Rosenberg_(Jurist)&oldid=232194696#Schriften_(Auswahl)).

36 Lutz Meyer-Goßner: Bearbeiter der 40. bis 60. Auflage des Kommentars.

37 Siehe noch mal FN 29.

38 Höre dazu https://www.freie-radios.net/122209, Min. 4:44 bis Min. 11:50.

40 http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/RGN22674640E3300102. – Die Entscheidung betrifft den Roten Soldatenbund (RSB) der Weimarer KPD. Weder die Begriffe „nicht nur gelegentlich oder beiläufig“ noch den Begriff „erheblich“ kann ich in der Entscheidung finden; auf S. 104 geht es auch kaum die Auslegung des damaligen § 129 StGB, sondern eher um das, was der RSB tatsächlich gemacht hat – nämlich sich am Spartakusaufstand 1919 usw. zu beteiligen. – Das waren jedenfalls in der Tat deutlich handgreiflichere Ak­tionen als die der „Letzten Generation“. Allein daraus folgt aber noch nicht, daß der § 129 StGB nicht auch Handlungen unterhalb revolutionärer Aufstandsbewegungen erfassen kann.

41 Urteil vom 21.12.1977 zum Aktenzeichen 3 StR 427/77 (S) https://research.wolterskluwer-online.de/document/aca6edcf-c0e5-45a4-bf9f-6727711067b0, Textziffer 11; Hv. hinzugefügt.

1983 wiederholte der BGH dies – nunmehr unter Hinweis auf seine eigene Entscheidung aus dem Jahre 1977: „die in einer kriminellen Vereinigung zusammengefaßten Mitglieder müssen sich bewußt sein, daß es bei Verfolgung ihrer Pläne – nicht nur gelegentlich und beiläufig – zur Begehung erheblicher Straftaten kommen kann, und müssen dies auch wollen (BGHSt 27, 325, 328)“ (Urteil vom 13.01.1983 zum Aktenzei­chen 4 StR 578/82; https://research.wolterskluwer-online.de/document/4028d38f-2f81-49fa-9bd6-b951213a22b5, Textziffer 8; Hv. hinzugefügt)

Eine weitere BGH-Entscheidung zu dem Thema erging dann 1995. Nunmehr verwies der BGH auf seine Entscheidung aus dem Jahre 1983 und außerdem auf eine Entscheidung aus dem Jahre 1975 und gab au­ßerdem erstmals eine eigene Begründung für seine Rechtsauffassung: „Mit dieser Strafvorschrift soll im Sinne einer Vorverlagerung des Rechtsgüterschutzes […] erhöhten Gefahren begegnet werden, die im Falle der Planung und Begehung von Straftaten von festgefügten Organisationen aufgrund der ihnen inne­wohnenden Eigendynamik für die öffentliche Sicherheit ausgehen können […]. Daran gemessen, ist § 129 Abs. 1 StGB, nicht zuletzt auch wegen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und wegen der Bedeutung des Vergehens nach § 129 Abs. 1 StGB als Katalogtat für besondere strafprozessuale Maßnahmen (§§ 98 a Abs. 1 Nr. 2, 110 a Abs. 1 Nr. 2 StPO i.V.m. §§ 74 a, 120 GVG; § 100 a Abs. 1 Nr. 1 lit. c StPO), nur an­wendbar, wenn die begangenen und/oder geplanten Straftaten der Mitglieder eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit bedeuten, wenn sie somit unter diesem Blickwinkel von einigem Gewicht sind (vgl. BGHSt 31, 202, 207; BGH NJW 1975, 985/986; Lackner StGB 20. Aufl. § 129 Rdn. 3; Lenckner in Schönke/Schröder StGB 24. Aufl. § 129 Rdn. 3; Fürst, Grundlagen und Grenzen der §§ 129, 129 a StGB, 1989, S. 75).“

42 Siehe dazu noch einmal meine beiden bereits in FN 27 genannten Texte.

43 Das BGH-Urteil vom 13.01.1983 zum Aktenzeichen 4 StR 578/82 (https://research.wolterskluwer-online.de/document/4028d38f-2f81-49fa-9bd6-b951213a22b5, Textziffern 1, 5 und die nachfolgemde Be­gründung) verneint für einen Fall von Wirtschaftskriminalität – in Übereinstimmung mit der Vorinstanz – die Bildung einer Kriminellen Vereinigung.

45 „Subsumtion“ wird im juristischen Sprachgebrauch die Unterordnung von Sachverhalts-Elementen unter Tatbestandsmerkmale genannt; vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Subsumtion_(Recht).

46 Vereinigungsdelikte bedeuten – jedenfalls eine tendenzielle – Verschiebung vom Tat- zum Gesinnungs­strafrechts: Bestraft wird z. B. bereits die mitgliedschaftliche Betätigung in einer solchen Vereinigung, un­abhängig davon, ob sich die einzelnen Mitglieder gerade an den als kriminell, terroristisch oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichteten etc. Handlungen der Vereinigung beteiligen.

47 „Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.“

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

DGSch

Detlef Georgia Schulze ist PolitikwissenschaftlerIn und schrieb zuletzt in der jungen Welt vom 27.03.2023 über „Fehler der bürgerrechtlichen bis linksradikalen Reaktionen auf das Verbot von ‚linksun­ten.indymedia‘“. Neben anderen Veröffentlichungen zu rechtstheoretischen und rechtspolitischen Themen gab er/sie 2010 – zusammen mit Sabine Berghahn und Frieder Otto Wolf – das zweibändigen Buch „Rechtsstaat statt Revolution, Verrechtlichung statt Demokratie?“ (Bd. 1: https://d-nb.info/986059048; Bd. 2: https://www.dampfboot-verlag.de/filepool/getfile/dampfboot/?datei=/dateien/download/inh-schulze2-784.pdf) heraus.

Weitere Informationen unter der Adresse: https://web.archive.org/web/20220120071119/https://links-wieder-oben-auf.net/ueber-mich/.

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