Wenn die Zahnfee zweimal klingelt.

Medizinjournalismus Alltagserfahrungen können trügerisch sein. Auch im Urlaub.

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Dr. Johannes ist Arzt in Weiterbildung in Hamburg, hatten einen ziemlich beeindruckenden Lebenslauf und ist ein Workaholic. Letzteres ist meine Vermutung, wenn ich mir seine Produktion an Tweets und Videos anschaue. Ich schaffe es gar nicht alle Videos zu schauen, die er dreht. Letztens ab doch und das unter anderem auch, weil ich ob des Titels etwas skeptisch war:

Warum immer im Urlaub krank?

Darin versucht Dr. Johannes zu erklären, woran es liegt, dass man ständig vor dem Urlaub krank wird. Wen die Erklärung interessiert, sei auf das Video verwiesen (Spoiler: Immunsystem). Als Beleg, dass dieses Phänomen existiert erwähnt er auch den Begriff “Leisure Sickness” aus dem englischsprachigen Raum. Dazu später. Nun gibt es ja viele Hypothesen zum Zusammenhang zwischen Psyche und Immunsystem. Eine nannte der Hohepriester der Vulgärpsychosomatik Rüdiger Dahlke (auch Arzt) auf seinem von mir besuchten Vortrag: “Wer (frisch) verliebt ist, wird nicht krank.” Alle nicken. Ich auch, bis ich a) Medizin studierte und b) frisch verliebt einen fetten Schnupfen bekam. Das war wohl die Ausnahme von der Regel?

Eher nicht, ein Schnupfen ist eine Infektionskrankheit und ein Virus kümmert es nicht, ob ich verliebt bin oder nicht. Und meine Immunsystem bildet nicht extra Antikörper, nur weil ich verliebt bin (nur die durch den Austausch von Körperflüssigkeit bedingten). Alles in allem, klingt das also eher unplausibel.

Bevor ich untersuche, wie ein Phänomen entsteht, muss ich erst mal feststellen, ob es das Phänomen überhaupt gibt. Alles andere ist “Toothfairyscience“. Also habe ich Google Scholar angeschmissen und nach “Leisure Sickness” gesucht. Viel gab es nicht, einigermaßen aktuell schien mir: “Leisure Sickness” von Vingerhoets et. al, 2002 veröffentlicht in “Psychotherapy and Psychosomatics”. Ca. 3% (1) gaben an (2), sich am Wochenende und im Urlaub häufiger krank zu fühlen (3) als in der Woche.

(1) 3% erscheint mir nicht sehr viel, wenn man sich überlegt, dass Wochenende und Urlaub zusammen ca, 30% des Jahres ausmachen. Wenn man davon ausgeht, dass an jedem Tag die Wahrscheinlichkeit krank zu werden ungefähr gleich ist, ist es nicht anders zu erwarten, dass einige Menschen durch Zufall an arbeitsfreien Tagen eher krank werden, als an Arbeitstagen. Die Frage ist, ob das ein Statistisch signifikanter Unterschied ist? Dazu kann ich nichts finden und bin selbst leider nicht bewandert genug, um das auszurechnen :-)

(2) Die Personen wurden retrospektiv befragt, ob sie sich krank gefühlt hätten. Es ist nicht unplausibel, dass ein Kopfschmerz, den man beim arbeiten gut ignorieren kann, einem das Wochenende “versaut”. Tendenziell wird man sich dann eher an das versaute Wochenende erinnern als an die Arbeit. “Confirmation Bias” nennt man das auch.

(3) Sie gaben eine ganze Reihe von Symptomen und Krankheiten an, die meisten ziemlich unspezifisch.: Kopfschmerzen, Schwäche, Muskelschmerzen, Mangel an Energie, Übelkeit, Rückenprobleme. Das sind ziemlich alltägliche Symptome. Die Frage wäre auch, ob man schon als “krank” gilt, wenn man eines dieser Symptome hat. Das Problem ist, dass jeder sich ab einem unterschiedlichen Grad “krank” fühlt. Das müsste erst mal definiert werden. Dazu schreiben die Autoren aber nichts.

Bevor wir das Problem besprechen, warum man “immer” vor dem Urlaub krank wird, sollten wir erst mal herausfinden, ob das überhaupt stimmt. Aber solche Mythen (ich traue mich jetzt mal, das so zu nennen) sind sehr langlebig. In jeder Notaufnahme/Geburtsabteilung wird man Personal finden, welches davon überzeugt ist, bei Vollmond sei das Patientenaufkommen höher, obwohl das nicht so ist (und es leicht zu überprüfen wäre :-))

Das alles ändert nichts daran, dass die Hinweise zur Stressreduktion am Video sicher nicht die schlechtesten sind.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

diaphanoskopie

"...im Gegenlicht der Wirklichkeit." - Ich hab' mal jeden Scheiß geglaubt. - @diaphanoskopie

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