Autokrat in Argentinien: Javier Milei wird ungeduldig
Notstand Der irrlichternde Präsident Argentiniens will von seinen Monstergesetzen zum Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft nicht lassen. Doch Javier Milei muss Konzessionen machen
Die Preise in Argentinien sind 2022 um 211,4 Prozent gestiegen. Das ist weltweit die höchste Inflationsrate
Foto: Luis Robayo/AFP/Getty Images
Gewerkschafter und Hausfrauen, Jugendliche aus den Vorstädten, Feministinnen und Indigene: Vor dem renovierten Kongressgebäude in Buenos Aires, inspiriert vom Pendant in Washington, versammeln sich fast täglich Menschen, die gegen eine Politik des Kahlschlags protestieren, wie sie Präsident Javier Milei betreibt. Am 24. Januar, zum Tag des Generalstreiks, vereinte das Hunderttausende. Unter ihnen war auch Juan Grabois, umringt von Anhängern und Neugierigen.
Der 40-jährige Sozialaktivist ist profiliertester Vertreter der undogmatischen Linken, die nach dem Erdrutschsieg Mileis im November in der Defensive steckt. Bei den internen Vorwahlen der Peronisten gelang ihm gegen Wirtschaftsminister Sergio Massa, den späteren Verlierer beim Präsidentenvotum, ei
nvotum, ein Achtungserfolg. Seit Mileis Amtsantritt hat Grabois in TV-Interviews, Kolumnen und sozialen Netzwerken die Absichten des ultralibertären Staatschefs klug analysiert und versucht, die Leute aufzurütteln.Immer wieder geht er mit gewinnendem Lächeln auf die Selfie-Wünsche seiner Bewunderer ein. Er begrüße die rasche Reaktion der Gewerkschaften auf Mileis „reaktionäres Projekt, alle Errungenschaften der sozialen Demokratie abzuschaffen“. Linke Bewegungen und Parteien, ebenso die nun oppositionellen Peronisten, hätten sich erst spät angeschlossen. Breiten, dauerhaften Protest über das progressive Lager hinaus erwarte er erst im März, „wenn die Einkommen nicht mehr reichen, um Strom, Gas oder Tickets zu bezahlen“. Auf keinen Fall dürfe man den Fehler begehen, Milei zu unterschätzen.Javier Milei in Davos: Beifall, Kopfschütteln und FremdschämenZuvor hatte der seinen ersten Auftritt in Europa, beim Weltwirtschaftsforum in Davos, wo der 53-jährige Ökonom mit rauer Stimme ein bizarres Hohelied auf die Wachstumsmaschine Kapitalismus anstimmte. In Argentinien kannte man diese Töne schon aus dem Wahlkampf, ganze Passagen übernahm Milei aus einer Rede, die er bereits 2019 gehalten hatte. Teilweise artete der 23-Minuten-Vortrag in eine Beschimpfung aus: „Kommunisten, Faschisten, Nazis, Sozialisten, Sozialdemokraten, Nationalsozialisten, Christdemokraten, Keynesianer, Neokeynesianer, Progressive, Populisten, Nationalisten oder Globalisten“ seien „ohne substanzielle Unterschiede, Kollektivisten“. Es vereine sie die Überzeugung, dass „der Staat alle Aspekte des Lebens leiten“ müsse. Ökos und Feministinnen vervollständigen das Verschwörungspanorama des irrlichternden Präsidenten. Unternehmer dagegen sind „soziale Wohltäter, Helden“, in ihm hätten sie einen „unnachgiebigen Verbündeten“.Der skurrile Auftritt löste in Davos Beifall, aber auch Kopfschütteln und Fremdschämen aus. Ultrarechte wie Libertäre in Europa und vor allem den USA, verstärkt durch soziale Netzwerke und nahestehende Medien, feierten – allen voran Elon Musk. Der reichste Mann der Welt hat ein Auge auf die Lithium-Vorräte in Argentinien geworfen. Milei will Musks Satellitendienst Starlink möglichst alle Hindernisse aus dem Weg räumen.In Argentinien wurde Mileis Auftritt auch als vertane Chance gesehen. Er hätte doch seriös um Investoren werben können, fanden liberale Beobachter. In Davos zeigte sich erneut, wie tief der Ultralibertäre in einem Paralleluniversum steckt, und dass nichts dafür spricht, dass er mit dieser Kompromisslosigkeit weit kommt, auch wenn die Stimmung im Lande mitten in der Urlaubssaison alles andere als eindeutig ist.Inflationsrate in Argentinien bei 25 ProzentDie Aktivisten der Stadtteilkomitees, die sich in der Buenos Aires jeden Mittwoch zu den „Cacerolazos“, dem Protest durch Pfannenschlagen, versammeln, sind eine noch überschaubare Minderheit. „Es ist kein Geld da“ – dieses Regierungsmantra leuchtet vielen weiterhin ein. Jüngsten Umfragen zufolge ist noch rund die Hälfte der Bevölkerung mit der neuen Administration zufrieden. Man ist froh, dass die Peronisten abgewählt sind, und hofft mittelfristig auf ein Ende der ökonomischen Dauerkrise. Die schweigende Mehrheit sieht zu, wie sie über die Runden kommt, ohne dass zu viel aus dem eigenen Geldbeutel verlorengeht.Genau das wird immer schwieriger: Nach einer Abwertung des Peso um 54 Prozent belief sich die Inflationsrate im Dezember auf 25,5 Prozent – der höchste Wert seit 1991. In den ersten 30 Tagen Milei-Regierung wurde Brot um 48 Prozent teurer, Rindfleisch um 62, Reis um 63, Softdrinks um 81, Benzin um 64, Milch um 128 Prozent. Die Preise für Medikamente verdoppelten sich. Das Fahren mit Bus, U-Bahn und Zug, bislang aus gutem Grund hoch subventioniert, kostet 45 Prozent mehr, während die Beiträge zur Krankenkasse im Schnitt um 70 Prozent gestiegen sind.Placeholder image-1Die Reallohneinbußen zu Beginn einer Präsidentschaft waren schon lange nicht mehr so groß wie jetzt, geschuldet nicht allein der Geldentwertung, sondern ersten Deregulierungsmaßnahmen, wie sie Ende Dezember durch ein „Notstandsdekret“ mit 334 Vorgaben ermöglicht wurden. Durch ein noch umfangreicheres Gesetzespaket – das sogenannte Omnibus-Gesetz – wollte die Regierung von gut 600 avisierten Schritten zum Staatsabbau in Sondersitzungen des Kongresses möglichst schnell möglichst viele durchsetzen, doch dass es Milei gelingt, den argentinischen Staat mit seiner Kettensäge zu zerlegen, ist unwahrscheinlicher geworden.Bei den geplanten Privatisierungen von 41 Staatsbetrieben wird die Erdölfirma YPF ausgenommen, bei anderen ist jetzt nur noch an Teilprivatisierungen gedacht. Auch der Kahlschlag im Kulturbereich wird nach heftigen Protesten gedrosselt. Taktische Konzessionen, solange anderswo weiterhin der Rotstift angesetzt wird? Für Bürokratieabbau durch Deregulierung und einen ausgeglichenen Haushalt sind Konservative wie Liberale leicht zu gewinnen, doch Steuererhöhungen für das Agrobusiness oder die obere Mittelschicht lehnen sie ab – daran scheiterte in der Vorwoche ein von der Regierung erhoffter Kompromiss. Daraufhin klammerte diese das Finanzkapitel aus und konzentriert sich jetzt darauf, Milei für mindestens ein Jahr Sondervollmachten zu sichern. Ausgeschlossen ist es durchaus nicht, dass sich das Parlament vorübergehend selbst entmächtigt.Argentinien bei Umweltschutz „ins 19. Jahrhundert zurückgeworfen“Ein prominenter Streitpunkt sind zudem drohende Rentenkürzungen – seit jeher ein Herzensanliegen des Internationalen Währungsfonds (IWF), der sich von Mileis Austeritätskurs angetan zeigt. Ginge es nach der Regierung, käme auf die Rentner bis April ein Kaufkraftverlust von mindestens 41 Prozent zu. Zumindest teilweise haben Gerichte die Aushöhlung der Arbeiterrechte durch Mileis Megadekret für verfassungswidrig erklärt, vermutlich erst der Anfang. Die Justiz – allen voran der Oberste Gerichtshof – dürfte nach Ende der Sommerpause wirklich aktiv werden.Die Umwelt, seit jeher ein Stiefkind argentinischer Politik, schwebt unter Klimaleugner Milei in höchster Gefahr. Hart erkämpfte Bestimmungen zum Gletscher- und Waldschutz sollen ausgehöhlt werden, ein umkämpftes Feuchtgebiete-Gesetz rückt in unerreichbare Ferne. „Diese Ökosysteme werden zugunsten des Agrobusiness und der transnationalen Bergbaumultis geopfert, Landgrabbing wird wieder legal“, befürchtet Umweltanwalt Enrique Viale. „Wir waren dabei, die Fragen des 21. Jahrhunderts zu diskutieren, und jetzt sehen wir uns wieder ins 19. zurückgeworfen.“ Und das ist nur ein Beispiel für die Rückschläge, die nun allerorts drohen.Ex-Präsident Mauricio Macri, dessen Beistand Mileis Sieg bei der Stichwahl am 19. November entscheidend ermöglicht hat, beobachtet das Treiben aus seinem Urlaubsdomizil in den Anden offenbar irritiert. Etliche seiner früheren Kader arbeiten unter Milei, doch nach Möglichkeit wollen der und seine Libertären allein regieren. Die Sondersitzungen im Kongress, bei denen auch betroffene Fachleute angehört werden, wurden nun bis Mitte Februar verlängert. Mileis Agenda wird dann keineswegs abgearbeitet sein. Der Staatschef sei ungeduldig, vermeldete jetzt Innenminister Guillermo Francos: „Er fühlt, dass jeder Tag, der vergeht, ein verlorener Tag für die Transformation in Argentinien ist.“ Die Regierung sei bereits „am Rande des Nervenzusammenbruchs“, glaubt die peronistische Zeitung Página12.
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