Javier Milei ist ein Monster des Mainstreams: Quinn Slobodian über Argentiniens Wahlsieger
Neoliberalismus Er verkleidet sich, und viele bekommen bei ihm das Gruseln: Doch Argentiniens gewählter Präsident Javier Milei steht für nichts bahnbrechend Neues – an seinem Plan zur Dollarisierung üben sogar libertäre Freunde Kritik
Argentiniens künftiger Präsident Javier Milei kann eine Reihe von tadellos Mainstream-kompatiblen Referenzen vorweisen.
Foto: Tomas Cuesta/Getty Images
Argentinien hat vor Kurzem einen selbsternannten Anarchokapitalisten zum nächsten Präsidenten gewählt. Die Kommentare und Reaktionen darauf lassen Javier Milei wie ein Ungeheuer erscheinen. In vielerlei Hinsicht hat der 53-jährige ehemalige Wirtschaftswissenschaftler diese Darstellung selbst befördert: Sein AC/DC-Haarschnitt, das Schwingen einer Kettensäge bei Kundgebungen und seine Pin-up-Freundin provozieren absichtlich die Normen der Mäßigung und des Anstands, die in manchen Kreisen von respektablen Politikern erwartet werden. Seine Auftritte als „Captain Ancap“ auf Comic-Kongressen, in Trikots und mit einem Dreizack in der Hand, verstärken diesen Eindruck noch.
Was Donald Trump zu Mileis Wahlsieg sagt
Aber es gibt zwei Gründe,
Hand, verstärken diesen Eindruck noch.Was Donald Trump zu Mileis Wahlsieg sagtAber es gibt zwei Gründe, warum es falsch wäre, Mileis Selbstdarstellung auf den Leim zu gehen: Zum ersten folgt das eben dem Drehbuch, das er selbst für sich geschrieben hat, das seine Anhänger feiern und das ihn in den Präsidentenpalast geführt hat. Politischen Parallelen zu Ex-US-Präsident Donald Trump lassen sich nur bedingt ziehen, in Sachen Haare, Häme und der Freude daran, auf telegene Weise an bürgerlichen Normen zu rütteln, sind die Ähnlichkeiten offensichtlich. (Trump hat Milei zu seinem Wahlsieg und den Bemühungen, „Argentinien wieder groß zu machen“, gratuliert, wirkte dabei aber nicht besonders enthusiastisch.)Zum Zweiten wäre es töricht, Milei als außergewöhnliches Monster zu behandeln, denn er ist – ein Monster des Mainstreams. Betrachten Sie seinen Lebenslauf. Javier Milei sprach auf der Tagung des Weltwirtschaftsforums in Panama City im Jahr 2014 auf Einladung von Harvard-Kennedy-School-Professor Ricardo Hausmann:Eingebetteter MedieninhaltEr kann eine Reihe von tadellos Mainstream-kompatiblen Referenzen vorweisen. Er hatte mehr als 50 wissenschaftliche Arbeiten verfasst. Er war in seiner Funktion als Chefökonom von Corporación América für einen der führenden multinationalen Konzerne Argentiniens tätig. Wie DP World und Hutchison aus Hongkong ist Corporación América ein Logistikunternehmen, das Dutzende von Flughäfen in aller Welt besitzt, verwaltet und damit an der Spitze des Lieferketten-Kapitalismus der 2000er Jahre steht.Libertäre Kritik an Mileis Dollarisierungs-PlanAuch Mileis Vorschläge sind nicht ganz so radikal, wie sie scheinen. Sein Leitgedanke ist die „Dollarisierung“ – ein Projekt, das seine libertären Gesinnungsgenossen ihre Augenbrauen hat hochziehen lassen. Das libertäre Ludwig-von-Mises-Institut beeilte sich, darauf hinzuweisen, dass die Kopplung der eigenen Währung an die US-Notenbank nicht nur eine Unterwerfung unter die US-amerikanische Währungspolitik bedeutet, sondern auch die Wiederholung eines Tricks ist, der schon einmal versucht wurde – mit katastrophalem Ergebnis. Und auch, als Peru versuchte, den Dollar einzuführen, führte dies nur zu wirtschaftlichen Schwierigkeiten und zur Niederlage der Regierungspartei bei den nächsten Wahlen. Was Mileis andere Ideen betrifft – die Schrumpfung des Staates und die Privatisierung staatlicher Unternehmen – so sind dies die Standardmaßnahmen der Strukturanpassungsprogramme des seit den 1980er Jahren von Internationalem Währungsfonds und Weltbank propagierten Washingtoner Consensus.Der vielleicht aufschlussreichste Kommentar zu Milei kam bisher vom Economist, der schon Wochen vor der Stichwahl in Argentinien das Ende einer Ära der „Daredevil Economics“, also von „waghalsiger“ Wirtschaftspolitik, beklagte. In Anspielung auf die Bereitschaft zu riskanten Reformen, wie sie in der ehemaligen Sowjetunion nach deren Ende und in anderen postsozialistischen Ländern realisiert wurden, vollzieht die britische Wirtschaftszeitung deren Erfolg anhand des „Indexes für wirtschaftliche Freiheit“ des Fraser-Instituts in Vancouver nach.Genau dieser Index hat seine Wurzeln in der „Ancap“-Szene, der Milei angehört. Der leitende Wirtschaftswissenschaftler des Fraser-Instituts war bis 1991 Walter Block – den Milei neben bekannteren Persönlichkeiten wie Murray Rothbard und Hans-Hermann Hoppe zustimmend zitiert hat. Bei der Erstellung des Indexes merkte Block, wie auch Milei, an, dass jede Besteuerung Diebstahl ist und es dabei keinen Unterschied macht, ob sie mit einer Waffe im Anschlag oder mittels Wahlen durchgesetzt wird.Seit seiner Erstellung wird der Index zur Bewertung der Wirksamkeit von Reformen anhand eines extrem engen Maßstabs für das Wohlbefinden herangezogen. Es ist kein Zufall, dass der Irak einer der wenigen Orte war, wie der Economist feststellt, der in den vergangenen zehn Jahren in diesem Ranking aufgestiegen ist. Ein Neubeginn inmitten von Trümmern scheint so nichts anderes zu sein als eine gute Ausgangslage für Verbesserung.Der Zombie-Neoliberalismus der 1990er JahreAm Ende seines Artikels spricht der Economist eine bedingte Empfehlung für den Mann aus, der jetzt gewählter Präsident Argentiniens ist. Wenn Milei seine Pläne umsetzt, wird das vielleicht eine Rückkehr jener „waghalsigen Wirtschaftspolitik“ sein. Das Problem ist, wie immer in solchen Fällen: Wie kann eine demokratisch gewählte Regierung eine Politik implementieren, die ihr selbst die Hände bindet, wenn es darum geht, auf die Forderungen ihrer Wählerschaft zu reagieren?Daredevil Economics, das ist nichts anderes als der Zombie-Neoliberalismus der 1990er Jahre. Das Ungeheuerliche an Milei ist nicht, dass er für etwas Neues stehen würde, so sehr das seine Comic-Kostümierung auch suggeriert. Das Ungeheuerliche ist vielmehr, wie oll und vertraut das alles ist. Das alte Monster trägt jetzt eben einen neuen Haarschnitt.
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