Javier Milei wird Präsident Argentiniens: Mit der Kettensäge gegen die Demokratie

Meinung Vor lauter Wut über die Wirtschaftskrise haben die Argentinier den Rechtspopulisten Javier Milei zum Präsidenten gewählt. Es ist unklar, ob er sein ultraliberales Programm umsetzen kann, doch der Demokratie droht schwerer Schaden
Ausgabe 47/2023
Die Kettensäge ist kein präzises Instrument zur Umstrukturierung: Argentiniens neuer Präsident Javier Milei
Die Kettensäge ist kein präzises Instrument zur Umstrukturierung: Argentiniens neuer Präsident Javier Milei

Foto: Tomas Cuesta

Man kennt das Gefühl: Stundenlang versucht man, eine komplizierte Aufgabe zu lösen – sagen wir: ein vielteiliges Puzzle –, und kommt und kommt nicht vorwärts. Die Frustration steigt und steigt, bis man irgendwann vor Wut den ganzen Tisch umwirft. Dummerweise hat man sich so nicht nur des Puzzles entledigt, sondern gleich den ganzen Tisch zerbrochen.

So in der Art nimmt sich die Entscheidung der argentinischen Wählerschaft vom vergangenen Sonntag aus. Das Puzzle ist der Versuch, eine Regierung zu wählen, die der Wirtschaftskrise ein Ende bereiten kann. Peronisten, Konservative, wieder Peronisten – es wurde immer nur schlimmer, und nun beläuft sich die Inflation auf etwa 140 Prozent im Jahresdurchschnitt, fast die Hälfte der Bevölkerung lebt in Armut.

Also warfen knapp 56 Prozent der Wähler:innen den Tisch um und bestimmten Javier Milei zum neuen Staatspräsidenten. Mit fast zwölf Prozentpunkten Vorsprung vor dem Kandidaten der Regierung, Wirtschaftsminister Sergio Massa, holte Milei das beste Resultat seit der Rückkehr zur Demokratie 1983.

Präsident Javier Milei: Ohne Mehrheit im Kongress

Der selbst ernannte Anarchokapitalist, dessen Karriere mit wirrem Haar und weit aufgerissenen blauen Augen in nächtlichen Talkshows begann, hat also große demokratische Legitimität für sein Programm der Kettensäge, wie er es selbst nennt. Einerseits.

Andererseits hat seine Partei La Libertad Avanza nur 39 von 257 Sitzen im Abgeordnetenhaus und stellt sieben von 72 Senatoren – von den politisch einflussreichen Gouverneuren gehört ihr kein einziger an.

Ob er sein Programm der Dollarisierung, Privatisierung, Liberalisierung, Deregulierung und des Abbaus von Rechten für Minderheiten durchsetzen kann, ist also fraglich.

„Alles, was in privaten Händen sein kann, wird es sein“, hat er nach seinem Sieg als Bekräftigung seines Wahlprogramms verkündet. Außerdem sei es nicht die Zeit für Zurückhaltung. Das klingt wie eine Drohung und ist wohl auch so gemeint von einem, der Gegner als „Kaste“ und „Scheißlinke“ beschimpft. Freilich musste er die traditionelle Rechte davon ausnehmen, als sie ihn im zweiten Wahlgang unterstützte. Deren Steigbügelhaltertum ist, nebenbei bemerkt, eine wichtige Lektion auch für andere Länder. Es adelte ihn zu einer ernst zu nehmenden Alternative.

Vizepräsidentin Victoria Villarruel leugnet die Verbrechen der Diktatur

Doch vor allem hat ihm seine Anti-alles-Haltung die Stimmen von Millionen frustrierten jungen Wähler:innen eingebracht. Sie kennen nichts anderes als die Krise. Ihre Wut auf die Politik ist verständlich – wäre da nicht die Sache mit dem Tisch.

Denn Mileis Staats-Zersägungs-Programm erstreckt sich auch auf das für lateinamerikanische Verhältnisse gute Gesundheits- und Bildungssystem Argentiniens. Den neoliberalen Kahlschlag der 1990er hat es noch überstanden, doch Mileis Politik ist eine Radikalisierung desselben, und die Ausgangslage ist schlechter. Dazu kommen die offen antidemokratischen Töne und die Aufkündigung des erinnerungspolitischen Konsenses. Mileis künftige Vizepräsidentin Victoria Villarruel, Tochter eines Generals, leugnet die Zahl der 30.000 Verschwundenen der Militärdiktatur von 1976 bis 1983.

Zweifellos blüht Milei großer Widerstand von den recht starken Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Bedenkt man, dass er auch das Tragen von Waffen freigeben will, zeichnet sich ein sehr düsteres Bild von Argentiniens Zukunft ab. Sicher scheint nur: So schnell kommt hier niemand mehr an einem Tisch zusammen.

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Geschrieben von

Leander F. Badura

Redakteur Kultur (Freier Mitarbeiter)

Leander F. Badura kam 2017 als Praktikant im Rahmen seines Studiums der Angewandten Politikwissenschaft in Freiburg und Aix-en-Provence zum Freitag, wo er bis 2019 blieb. Nach einem Studium der Lateinamerikastudien in Berlin und in den letzten Zügen des Studiums der Europäischen Literaturen übernahm er 2022 im Kultur-Ressort die Verantwortung für alle Themen rund ums Theater. Des Weiteren beschäftigt er sich mit Literatur, Theorie, Antisemitismus und Lateinamerika. Er schreibt außerdem regelmäßig für die Jungle World.

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