Mirtha Legrand ist mit 96 Jahren wahrscheinlich die älteste noch aktive Moderatorin der Welt. In ihrer seit 1968 im argentinischen Fernsehen laufenden Sendung Almorzando con Mirtha Legrand (Mittagessen mit Mirtha Legrand, heute La Noche de Mirtha) saßen Promiente, Künstler, Wissenschaftler, Staatspräsidenten. Sie hat also einiges gesehen. Den Besuch von vergangenem Samstag fand sie dennoch „raro“, seltsam. Da saßen ein Mann mit wirrer Frisur, der wütend Besteck durch die Gegend warf und über den Staat schimpfte, und dessen neue Freundin, eine Schauspielerin, die durch Imitationen der ehemaligen Präsidentin und derzeitigen Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner bekannt wurde.
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Doch das Paar, das Le
Eingebetteter MedieninhaltDoch das Paar, das Legrand so seltsam fand, könnte bald selbst an der Spitze des Staates stehen – als Präsident und First Lady. Seit Javier Milei, bald 53, im August die Vorwahlen mit seiner Partei La Libertad Avanza gewonnen hat, gilt er als Favorit bei den Präsidentschaftswahlen am Sonntag. Die sind jedoch offener denn je, zum ersten Mal seit dem Ende der Militärdiktatur in Argentinien 1983 haben nicht nur zwei, sondern drei Kandidaten Aussichten auf den Sieg. Milei führt dabei in den Umfragen knapp vor Sergio Massa, Wirtschaftsminister und Kandidat der regierenden peronistischen Allianz Unión por la Patria, und Patricia Bullrich, Sicherheitsministerin unter der konservativen Regierung von Mauricio Macri (2015 – 2019) und Kandidatin des rechten Oppositionsbündnisses Juntos por el Cambio.Vor wenigen Jahren noch war Milei ein Kuriosum. Ein Ökonom, Berater eines schwerreichen Unternehmers, der nach Feierabend bei einem Fernsehsender in der Nachbarschaft vorbeiging, stets hoffend, interviewt zu werden. Irgendwann gelang es ihm, in nächtlichen Programmen aufzutreten. Oft verkleidet als Superheld, schimpfte er dort über die Politik, den Staat, den Feminismus. Bis er 2021 beschloss, in die Politik zu gehen und mit seiner Partei bei den damaligen Zwischenwahlen aus dem Stand ins Abgeordnetenhaus einzog.Tantra-Lehrer aus „Liberland“Geschickt hat Milei an seinem Bild als halb wahnsinniger, halb genialer Anti-Politiker gearbeitet. Seine Haare seien nicht ungekämmt, sondern von der „unsichtbaren Hand des Marktes“ frisiert; vor einigen Monaten machte die Meldung die Runde, Milei sei auch ausgebildeter Tantra-Lehrer; in einem Video von vor vier Jahren steckt er in einem schwarz-gelben Superhelden-Outfit mit Dreizack und stellt sich als „Capitán Ancap“ – eine Abkürzung für Anarchokapitalismus – aus „Liberland“, also Freiheitsland, vor; derzeit konvertiere er unter Anleitung eines Rabbi zum Judentum. Doch das Wichtigste ist stets der Furor, mit dem er gegen die „Kaste“ der etablierten Politiker hetzt, die sich nur selbst bereichere, um so den Frust, den die hartnäckige Wirtschaftskrise in der Bevölkerung hinterlässt, zu ernten.Wie Donald Trump und Jair BolsonaroAls „Erbe Adam Smiths, Mozart der Ökonomie, Zestörer der Keynesianer“ macht er dabei zugleich vermeintliche Expertise geltend, wenn er fordert, die Zentralbank abzuschaffen, die Wirtschaft zu dollarisieren und einen Großteil der Bundesministerien – insbesondere die für Bildung und Soziales zuständigen – zu schließen.Man kennt diese Rhetorik der Tabula rasa, die Vergleiche mit Donald Trump und Jair Bolsonaro sind Legion. Doch Milei ist auch ein spezifisch argentinisches Phänomen. Wie ein böser Geist mutet dieser wild gewordene Libertäre in einem Land an, dessen Fluch gerade die Wirtschaft ist.Für Organhandel, gegen AbtreibungDer Wertverfall des Peso verläuft seit Jahren ungebremst, die Inflation wird für 2023 auf 140 Prozent geschätzt, fast die Hälfte der Bevölkerung lebt inzwischen in Armut. Milei profitiert davon, dass diese Krise weder vom Konservativen Mauricio Macri noch vom regierenden Peronisten Alberto Fernández aufgehalten werden konnte. Ähnlich wie nach dem Staatsbankrott 2001 sehnen sich viele Argentinier nach einem politischen Neuanfang. Doch während damals die linksperonistische Ära der Kichners anbrach, droht dem Land nun eine ultraneoliberale Zukunft, garniert mit gesellschaftlichem Rückschritt.Denn während Milei für die Freigabe des Organhandels plädiert, weil jeder über seinen eigenen Körper verfüge, ist er strikt gegen Abtreibungen. Neben einer ökonomischen Katastrophe droht Argentinien mit seiner bemerkenswert fortschrittlichen Gesetzgebung in puncto Frauen- und Transrechte ein gewaltiger Rückschritt. Dazu passt, dass Milei den menschengemachten Klimawandel leugnet und sich mit Victoria Villarruel eine Kandidatin für die Vizepräsidentschaft an Bord geholt hat, die seit Jahren ein Projekt der „Gegen-Erinnerung“ betreibt: die Zahl der Opfer der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 – 30.000 – leugnet sie und will stattdessen die Opfer des Linksterrorismus aus der Zeit vor 1976 würdigen.Dass Milei als Abgeordneter konsequente Arbeitsverweigerung betreibt, tut seiner Popularität keinen Abbruch. Gerade die Begeisterung vieler junger Wähler ist ihm sicher. Doch in dem Rechtsperonisten Sergio Massa blüht ihm in der Stichwahl ein kampferprobter Gegner. Ob Capitán Ancap das Steuer Argentiniens übernehmen wird, ist völlig offen.