Werbung mit Kindern gehört genauso verboten wie Werbung für Kinder

Marketing Cem Özdemir will Minderjährige vor ungesunder Junkfood-Werbung schützen. Aber Kindergesichter in Marketingfilmchen sollen erlaubt bleiben?
Ausgabe 09/2023
Kinder sind süß. Aber mit ihren Gesichtern sollte nicht geworben werden
Kinder sind süß. Aber mit ihren Gesichtern sollte nicht geworben werden

Foto: ClassicStock/Getty Images

Kennen Sie den aktuellen Werbespot von Nutella? Da springen Kinder durchs Wohnzimmer, legen sich lachend Erdbeeren und Bananen auf das braun beschmierte Brot und beginnen „den Tag mit einem Lächeln“. Sie haben auch allen Grund dazu: Mehr als die Hälfte eines Nutella-Glases besteht aus Zucker. Nun hat Bundesernährungsminister Cem Özdemir (Grüne) angekündigt, Werbung für ungesunde Lebensmittel zwischen 6 Uhr morgens und 23 Uhr abends verbieten zu wollen: im TV, im Radio und auf Youtube. Foodwatch fordert schon länger ein „Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel“. Das mag eine gute Idee sein. Aber warum juckt es niemanden, dass Kinder selbst in zahllosen Marketing-Filmchen die Werbetrommel rühren? Wenn man Minderjährige vor der Werbewirtschaft schützen will, sollte man dort mit einem Verbot anfangen.

In diesem Winter veröffentlichte das Pariser Modehaus Balenciaga zwei Bilder von Kindern, die mit Plüschteddys posieren. Klingt süß? Ja, wenn die Bären nicht Fesselgurte, Netzoberteile und Lederriemen getragen hätten – allesamt Accessoires aus der Sadomaso-Szene. So wurde, echt wahr, die neue Handtaschenkollektion der Luxusmarke beworben. Es folgte ein Shitstorm auf Social Media. Ein bekanntes Gesicht des Labels, Kim Kardashian, war „angewidert“, dass Kinder so sexualisiert dargestellt werden. Und zack, hatte Balenciaga die heftigste Kontroverse der Unternehmensgeschichte an der Hacke. Im Februar, drei Monate nach dem Vorfall, entschuldigte sich Chefdesigner Demna Gvasalia: „Es war unangemessen, Kinder für Objekte werben zu lassen, die nichts mit ihnen zu tun haben.“

Klar, denkt man, Kinder haben selten mit Handtaschen und Fesselsex zu tun. Aber liegt das Problem nicht tiefer? Den Nachwuchs für kommerzielle Zwecke zu benutzen, ist immer falsch. Warum muss ein deutsches Versandhaus in seinem aktuellen Katalog mit Kindern hausieren gehen, die auf der „frühlingsfrischen“ Bettwäsche herumtollen? Oder Vileda: Der Wischmop-Hersteller lässt in einem neuen Spot ein Mädchen über den Mikrofaser-sauberen Boden robben. Wäre es nicht absurd, Kinder vor den Inhalten der Werbung schützen zu wollen, während sie weiter in solchen Schrottfilmen auftreten dürfen?

Pharmaindustrie wirbt mit Babygesichtern für Mittel gegen Blähungen

Wie viele Kids jedes Jahr ihr Gesicht für die deutsche Werbewirtschaft hergeben, ist schwer herauszufinden. Die Nielsen Company, weltweite Nummer eins in Sachen Marktforschung, erhebt solche Daten. Kleines Manko: Das Unternehmen will mehrere Tausend Euro vom Freitag, um sie auszuwerten und uns zur Verfügung zu stellen. Dabei zeigt ein Blick zurück in die deutsche Werbegeschichte, wie mies sich „Kinderstars“ oft nach ihrem großen Auftritt fühlen. 2006 wagte sich Günter Euringer im SZ-Magazin erstmals an die Öffentlichkeit. Mit zehn Jahren war er von Ferrero abgelichtet worden, danach war er 30 Jahre lang das Gesicht der „Kinderschokolade“. Es sei ihm später „extrem peinlich“ gewesen, das Aushängeschild der Süßigkeit zu sein, sagte der Münchener in dem Interview. Für das Bild hatte er ein einmaliges Honorar von 300 Mark bekommen. Für diesen Mini-Betrag hat sich Euringer jahrzehntelang für sein „Puppengesicht“ auf der Verpackung schämen müssen. Und dabei mag er Schokolade nicht einmal.

Ein Konkurrent der Nielsen Company, der nicht genannt werden will, stellt dem Freitag kostenlos Zahlen zur Verfügung. Ergebnis: Im vergangenen Jahr sei 3.712-mal Werbung mit einem oder mehreren Kindern darauf in Deutschland geschaltet worden. Leider ist die Tabelle nicht trennscharf – sie rechnet Anzeigen mit Studenten mit. Was aber interessant ist: 508 der 3.712 geschalteten Anzeigen stammen von der Pharmaindustrie. Zum Beispiel wurden „Velgastin“-Tropfen in einer Fachzeitschrift mit einem überrascht guckenden Baby beworben. Darüber stand: „What? Ich und Blähungen? Das war Papa!“ Gut, das Präparat ist für Babys gedacht. Aber wollen Sie mit dem Wissen leben, als Kleinkind für Anti-Furz-Mittel Ihr Gesicht hergegeben zu haben?

Auch die Werbewirtschaft muss sich natürlich an das Jugendarbeitsschutzgesetz halten. Außerdem gibt es die freiwillig auferlegten „Kinderregeln“ des Deutschen Werberats, wonach unter Zwölfjährige „nicht als Sexualobjekte“ dargestellt werden sollen. Ein generelles Verbot, mit Kindern zu werben, gibt es aber nicht und ist auch von der Ampel-Regierung nicht geplant.

Müsste es aber! 2022 hat „Milgamma protekt“ 29-mal mit Kindern geworben – für eine Tablette gegen Taubheitsgefühle in den Füßen. Auf dem Bild malt ein Mädchen die Füße seines (vermeintlichen) Opas mit bunten Farben an. In der Haut des Mädchens will man nicht stecken, wenn das später auf dem Schulhof rauskommt. Leider fällt ein generelles Werbeverbot mit Kindern nicht in den Beritt von Özdemir.

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