Der Zahn der Zeit – Mein letztes Panini-Album

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Seit gestern bin ich alt. Nicht, dass ich einen runden Geburtstag gefeiert oder graue Haare entdeckt hätte. Es ist einfach so gekommen ohne Vorwarnung. Die Erkenntnis schoss eiskalt aus der zum Glück noch nicht künstlichen Hüfte.

Für ein Konzert befinde ich mich das erste Mal seit Jahren wieder im Hamburger Kaiserkeller in der Großen Freiheit. Alles ist so wie immer. Das Ambiente dunkel gehalten, Kicker, Billiard-Tisch, Bühne, Tanzfläche, Tresen.

Zum selben gehe ich zügig, um Bier zu bestellen. Und dann kommt der Knock-Out: „Was möchten SIE trinken?“Die Ausrede, ich stehe im ungünstigen Licht, das gnadenlos meine ersten Alterserscheinungen aufdeckt, zählt nicht. Es ist wie gesagt halb dunkel. Meine Rache sieht wie folgt aus: „Haben SIE Alsterwasser?“ Der Barkeeper ist Anfang Zwanzig und trägt ein Retro-Shirt, das Original hing 1985 in meinem Schrank. Ich taumle zurück zu meinem Platz und bin froh, dass mir die Bedienung keinen Corega Tab im Getränk aufgelöst hat. Dennoch erfreuen mich die relativ humanen Bierpreise. Vor mir ein Flyer: „Heute Bierpreise wie vor 20 Jahren!“ Gebt mir den Gnadenschuss! Auch vor zwanzig Jahren -sprich vor zwei ganzen Dekaden- amüsierte ich mich hier und durfte schon trinken, rauchen und Autofahren.

Auf einmal fällt mir Henry mit den grauen Schläfen ein. Henry war damals Ende Dreißig und auf jeder Party dabei. Dass er knapp 20 Jahre älter war, störte uns nicht. Manchmal profitierten wir von seiner „Altersweisheit“. Nur seine beigen Converse-Chucks passten nicht so ganz zu seinem fortgeschrittenen Alter. Ich wollte damals noch in Würde altern.

Das Konzert beginnt, ich fange an zu sinnieren. Nein, ich bin alt, naja nicht mehr jung. Ab wann ist man alt? Wenn die eigenen CDs im Oldie-Radio gespielt werden? Wenn man bei Kuschelrock Volume 3 aufgehört hat Kuschelrock zu hören, und jetzt der Kuschelrock-Wahn wahrscheinlich schon bei Volume 50 angekommen ist? Wenn Whitney Houston von meiner ersten Kuschelrock-CD heute nur noch ins Mikrophon rülpst? Wenn Boris Becker mittlerweile verständlich sprechen kann?

Ein weiteres Indiz ist mein neues Panini-WM-Album. Mein achtes seit 1982. Es wird das letzte sein. Hat man bis vor 16 Jahren noch zu den meisten Spielern altersmäßig aufgeschaut, könnten sie heute meine Söhne sein. Ich beschließe,alle Fußballer, die nach 1985 geboren sind, auf den Kopf zu kleben und mir ein T-Shirt mit dem Konterfei von Rudi Völler zu kaufen. Kurz vor WM – Startbefinde ich mich also in derMidlife-Crisis! Wahrscheinlich werde ich zu schwach sein, die Spiele mit zu verfolgen und kann mir wegen meiner Alters-Demenz auch keine Spielernamen merken. Gibt es Gebiss-Dosen im Fußball-Design?

Nach einer Weile fange ich mich wieder.Ich bin 38 Jahre alt und noch gut zu Fuß. Ich konzentriere mich auf das Konzert. Der Bassist hat ein original verwaschenes ACDC T-Shirt an. Versöhnt und halbwegs dynamisch bewege ich mich im Takt. Dabei gucke ich verstohlen auf meine beigen Converse-Chucks.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden