Junimond im Januar – Nicht nur eine Hommage an Rio Reiser

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Es ist kalt geworden in Deutschland. Trotz Tatort an diesem frostigen Sonntagabend im Januar ist das ehrwürdige Hamburger Schauspielhaus bis auf den letzten Platz gefüllt… und stockduster. Die noch leicht eingeschneit fröstelnde Zuschauer-Menge wartet gedämpft hustend und schneuzend. Zu sehen ist Selig-Frontmann Jan Plewka noch nicht, zu hören schon. In die Dunkelheit hinein schreit er „Halt an Deiner Liebe fest“. Er scheint langsam von den oberen Rängen hinunter zur Bühne zu wandern, die langsam beleuchtet wird. Hier erinnert Jan Plewka mit der schwarzroten Heilsarmee heute anRio Reiser und die Band „Ton, Steine, Scherben“.

Wer jedoch ein einfaches Gedenkkonzert à la „Wir singen heute mal die Lieder von Rio Reiser nach“ erwartet, wird von vornherein eines Besseren belehrt. Plewka kopiert nicht einfach platt, sondern interpretiert auf eine sehr persönliche Weise, gegen die Rio Reiser sicherlich auch keine Einwände gehabt hätte.

„Ton, Steine, Scherben“ waren rein altermäßig erst mal gar nicht meine Zeit. Ich bin auf Empfehlung hier und möchte den Sonntag kulturell ausklingen lassen. Das Publikum ist eine gesunde Mischung unterschiedlicher Generationen: Günter-Netzer Gedenk-Frisuren, 68er-Spätlese, Kreative, Parkas, Anzüge, Cordhosen und Cuba-Caps.

Auf die Hausbesetzer-Hymne „Rauch-Haus Song“ folgt „Keine Macht für Niemand“. Das Gerücht hält sich hartnäckig, dieses Lied sei ursprünglich als eine Art Auftragsarbeit für die RAF geschrieben worden, die das Werk jedoch als „unbrauchbar“ abgetan hat. Das sehen die Theater-Besucher am heutigen Abend etwas anders. Die ersten singen mit, manche ballen Fäuste. Dann die fast unheimlich aktuelle Satire „Der Turm stürzt ein“. Ein Schelm, wer dabei an die Finanzkrise denkt…

Das Theater ist der ideale Ort für diesen Abend. Es handelt sich hier nämlich nicht um ein herkömmliches „Hier die Band und dort die Zuhörer“- Konzert sondern um eine Darbietung, die mit sehr lebendigen, theatralischen Szenen gespickt ist. Einige Zuschauer finden sich auf der Bühne wieder, andere müssen Platz machen, da sich Plewka und Band musizierender Weise durch die Sitzreihen kämpfen. Die Lieder gehen in den Bauch, ins Herz oder sonst wohin. Jedenfalls wird das Innere getroffen.

Neben mir eine Frau in den 50igern, die gerade gut sichtbar eine Art Zeitreise in ihre persönliche Vergangenheit unternimmt. Wahrscheinlich lebt sie die Ära der Hausbesetzungen und Anti-Atomkraft-Demos nochmal durch. Wer weiß das schon. Ich schaue sie an und bin ein wenig neidisch. Werde ich in 20 Jahren auch irgendwo mit geballter Faust in einem Theater stehen und die Parolen meiner Jugend schreien? Wohl kaum. Das liegt auch daran, dass ich mich an keine Parolen meiner Jugend erinnern kann. „Kein Blut für Öl“ war eher ein kurzes Gastspiel.

Seit frühester Jugend stapft meine Generation (Golf) erst mit Walkman, dann mit Discman und jetzt mit I-Pod durchs Leben. Viele Einzeller ohne Parolen spielen den Alltag als persönliches Video ab. Manchmal surfen sie auf Wellen vergangener Mythen. Wie ich heute ein wenig. Vielleicht etwas überspitzt, aber manchmal kommt es mir so vor. Zeitlupen-Filmsequenzen von Erdbeben-Opfern auf Haiti passen gut zum „Halleluja“ interpretiert von Justin Timberlake. Die heutige Musik wird perfekt via I-Pod übertragen, aber überträgt die Massen-kompatible Musik oder DSDS noch Denkanstöße und Ideen? Wollen Retorten-Bands und Casting-Shows Sprachrohr einer Generation sein?

Dieser Text ist kein „Früher-war-alles-besser-Text“. Ich erinnere mich z.B. an 70er Jahre Schlager, die sicherlich auch keine Parolen wie „Ganz in Weiß mit einen Blumenstrauß“ an den Häuserwänden hervorgerufen haben. Und das ist auch gut so.

Die 2000er haben zweifellos großartige authentische Musiker hervorgebracht. Aber über die Antwort auf die Frage „Wofür stehen die späten 1990er und 2000er musikalisch und was ist ihr Motto?“ muss ich lange nachdenken. Musik und eigene Gedanken scheinen durch dreijährige Bachelor-Studiengänge, Karrieredruck, soziale Isolation und Reizüberflutung von der Prioritäten-Liste verdrängt worden zu sein. Obwohl: „Der König von Deutschland“ wurde ja dann doch 2006 noch von einer Billighandelskette reanimiert.

Apropos: Jan Plewka hat mit zahlreichen Zugaben einen gefühlvollen und nachhallenden Abend beendet. Ich stehe vor dem Theater und habe Lust eine Parole an die Wand zu sprühen: „Es ist kalt geworden in Deutschland!“



Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden