Wir sind wieder wer!

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Deutschland im Fahnenmeer. Der hyperaktive Moderator des „Grand Prix d‘Eurovision“ Public Viewing Events auf dem Hamburger Spielbudenplatz ist sich dem epochalen Ereignis des heutigen 29.05.10 bewusst. Eine neunzehnjährige Sängerin aus Hannover mit einem Nachnamen, der in jedem Loriot-Film willkommen wäre, hat vor zehn Minuten den ersten Platz des „Grand Prix d’Eurovision“ für Deutschland gewonnen. Es gab bestimmt schon schlechtere Beiträge. Sinn und Unsinn bzw. Qualität dieses Wettbewerbs ist jedoch nicht das Thema.

Nach einer 28-jährigen Dürreperiode hat Deutschland eine neue Nicole, ohne weiße Gitarre. Die Stimme des Grand-Prix- Moderators überschlägt sich: „Jetzt sind wir nicht nur Papst sondern auch Grand Prix!“Die weitere Ansprache geht in der tosenden Menge aus Freudentränen, Sprechgesängen und Meerschweinchen-Gefiepe unter. Als deutscher Staatsbürger ist man also automatisch katholisch, um die achtzig und mit Ralf Siegel verwandt.

Was sind wir als nächstes? Hund, Katze, Maus, Müllschlucker oder einfach pleite? Nochmals zu Erinnerung: Es geht hier um einen Gesangswettbewerb, um so etwas Ähnliches wie „Jugend musiziert“, nur dass die Haare der Teilnehmer mit Hilfe von Windmaschinen durcheinander gewirbelt werden.Nationalbewusstsein entfachtausKommerz und einer cleveren Vermarktung-Industrie. Ist Nationalismus wirklich so einfach? Im August finden die Minigolf-Youth World Championships im russischen Sochi statt. Würde diese derzeit eher noch bescheidene Veranstaltung mit der richtigen Vermarktung und Medien-Präsenz ebenfalls einen Freuden-Taumel in schwarz-rot-gold beim Public Viewing hervorrufen?

So kurz vor der Fußball- Weltmeisterschaft ist jeder vernünftige Deutschland-Fan natürlich schonmit einem Arsenal ausSchwarz-Rot-Goldenen Accessoires ausgestattet, um die Weltmeisterschaft standesgemäß zu überstehen. Keine Frage, jeder jubelt und kann auch Fahnen schwenken. Warum nicht? Aus Coolness für Nord-Korea jubeln? Auch nicht wirklich. Wie sich die Fankultur seit dem „Sommermärchen“-Sommer 2006 jedoch entwickelt hat, ist – bemerkenswert. Es scheint, als ob eine Flutwelle aus schwarz-rot-güldenen Plastik-Klatschhänden, Pseudo-Irokesen-Kämmen, Slips, Kondomen, Cowboy-Hüten, Auto-Sonnenblenden, Aschenbecher und Atom-Reaktoren das Land überschwemmt. Deutschland einig WM-Land.

Wurden in den WM-Jahren vor 2006 einfach Tore bejubelt, waren vor vier Jahren Prügeleien an der Tankstelle im Kampf um die letzte Deutschland-Auto-Klemmfahne durchaus üblich. Ein „Wir sind wieder wer (WM 1954)“ zusammen mit einem „Jetzt dürfen wir auch wieder (WM2006)“ hat sich eingebürgert. Vielleicht singt Deutschlands erster Grand Prix Friedensengel Nicole ja die Nationalhymne vor dem ersten Deutschland-Spiel. Natürlich mit weißer Gitarre.

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