Liquid Democracy revisited - aus Anlass einer

NZZ-Leserdebatte , die aktuell aufgesetzt wurde, und der auch dieser Artikel von A. Fichter voran ging:

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Ihre Freitag-Redaktion

https://www.nzz.ch/feuilleton/neue-politik-ich-gebe-dir-meine-stimme-ld.1293900

Zur Leserdebatte selbst geht' hier:

https://www.nzz.ch/leserdebatte/leserdebatte-hat-das-modell-einer-digitalen-demokratie-zukunft-ld.1293991

Ich schließe beim Kommentar von Johann Sajdowskian an, der mit "Das Projekt fand rasch Zustimmung, aber auch Opposition" beginnt.

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Aus dem Fichter-Artikel bzgl. der Piraten:
"Der Konflikt zwischen der Überprüfbarkeit elektronischer Abstimmungen einerseits und Datenschutzansprüchen andererseits wurde als unlösbar dargestellt. Die Folge der hysterischen Debatte:
Liquid-Feedback-Projekte wurden gestoppt. Das Projekt der digitalen Mitgliederbeteiligung war erst einmal gescheitert. «Die Piratenpartei hatte die einmalige Chance, ihrem Ruf als Partei des 21. Jahrhunderts entsprechend neue digitale Wege der Demokratie auszuprobieren. (. . .) Das alles wurde versäumt», so lautet das Verdikt von Schwerd. Zerwürfnisse und Parteiwechsel prominenter Parteimitglieder folgten."

Zur Vertiefung von:
"Das Projekt fand rasch Zustimmung, aber auch Opposition: Gegner fürchteten um die Anonymität der Beteiligten."

Ich war damals Mitglied und im Pressemitteilungsteam der Piraten beim LV Bayern, und muß sagen, daß Schwerd/Fichter nur bedingt den wahren Verlauf treffen:


1. Orga-technisch wollten die "Macher" & Admins des "Liquid Feedback" - Tools (ein Fork von Liquid Democracy) keine Kontrolle zulassen. Das ist aber wichtig, sonst können die in ihrem Interesse, nach ihrer Auffassung zu einer Frage, die Sache ganz frei behumpsen.
In m. o. w. "privaten" Org'en wie Parteien, wo keine offizielle Kontrolle möglich/machbar ist, z. B. durch OSZE, aber auch bei deutschen, amtlichen Analog-Wahlen kontrollieren sich die Gruppen, Parteien, Neutrale, vereidigte Beamte usw. gegenseitig über das gesamte Verfahren, von der Feststellung der Wählereigenschaft bis zur Auszählung und Meldung nach "oben". Das ist oft löcherig, aber was an Fälschungen bisher aufflog, war so gering, daß deswegen kaum eine Wahl wiederholt werden musste. Auch wenn man noch eine Dunkelziffer hinzurechnet - das JE(!) "Löchrige" ist kaum SYSTEMATISCH und erst recht nicht nur von einer einzigen Interessengruppe ausnutzbar -, geht das analog sehr in Ordnung, WENN MAN das Alles WILL und KANN.

Wo die Wahl- u. Abstimmungssachen im KLEINEN Kreis laufen, z. B. vom Ortsverband über Regio-, Landes- bis Bundes-Parteitag, ist das schon nicht mehr so sicher, - vor allem bei starken Alt-Strukturen (und/oder hierarchisch bis sektemäßigem Aufbau "von oben").
Letzteres stellten sich die Admins von LQFB wohl vor, - und die Partei-FührungEN konnten und wollten kein Konzept zur Kontrolle entwickeln und demzufolge auch nicht durchsetzen, - es wäre bannig viel Arbeit gewesen und wie bei solchen Org'en üblich, haben diejenigen letztlich Oberwasser, die nicht selbst etwas erarbeiten, sondern die viel reden und anderen erzählen, was diese wie zu machen hätten.
Und die Basis wäre wohl zur Kontrolle-Entwicklung in der Lage gewesen, aber hätte das erst und selbst bei Führung und Admins durchdrücken müssen. Für sowas war man aber gar nicht eingetreten, denn da hätte man's auch bei den Linken, den Grünen oder sonstwo auch versuchen können, also ging man erst ins innere Exil und dann aus der PiratenPartei raus.
(Jahrelang gegen Funktionäre, Gründer, Kassierer, Admins erstmal darum kämpfen zu müssen, überhaupt kämpfen zu dürfen, liegt nicht gerade im Trend beim Reservoir derer, die da nicht schon gebunden sind, oder von dort, wo sie herkommen, eben deswegen die Nase voll hatten)

Digitale Demokratie lebt genauso wie die analoge von Transparenz und Kontrolle, ist dort genauso machbar wie analog.
Eine elektronische Urne bedarf genauso direkter und lückenloser Überwachung/Kontrolle (oder einer vertrauenwürdigen Neutralinstanz, die nicht leicht bestech- u./o. erpressbar ist, -> kurzfristige Aufgabenzulosung u. v. a. mehr) wie eine analoge usw.

Die meisten Schwierigkeiten macht der Briefwahlcharakter einer Abstimmung per PC/Mobile:
Hier wie dort gibt es kein öffentlich kontrolliertes Geheimnis der Wahl-KABINE. So kann jede/r irgendwie Abhängige (vom/von Pascha, Familie, Clan, Sekte, "Freunden", Arbeitgeber, in "Heimen" usw.) dazu genötigt sein, seine Wahl direkt "unter den Augen" von jemand anderem vorzunehmen. Dem kann man mit der
Möglichkeit zur Fake-Transaktion (über Falschpasswörter) begegnen, - für jene, die sich dann unbemerkt von woanders zur richtigen Transaktion einloggen können.
(Da kann man auch zeitweise Leute in Internetcafes hinstellen, die den Kabinencharakter und dessen Integrität sicherstellen, "Dauerkundschaft", die mitkriegt, wer alles dort wählt, hinaus komplimentiert usw., - eben wie bei der Analogwahl, sogar besser, weil von Aussen die meisten Analog-Wahlräume so gesondert von gängigen Alltagsfunktionen liegen, daß jede/r der/die ins Gebäude hineingeht, sehr sicher als Wähler notiert werden kann, das Hineingehen in ein Inetcafe aber auch ganz andere Gründe haben kann)
In Heimen usw. kann eine neutrale/gemischte Gruppe von Aussen (kurzfr. Zulosung) öffentliche Kontrolle und Beihilfe zur Wahl bzw. Abstimmung gewährleisten, was zwischen Brief- u. Digital-Wahl genauso austauschbar ist. Die digitale Lösung ist über die Möglichkeit zur Fake-Transaktion da sogar besser als die Analogwahl: Erst kürzlich hat der Bundeswahlleiter 'Schlands nach einem Jahrzehnt des Monitums das Fotografieren in der Wahlkabine verboten, weil eben damit das Wahlverhalten von Abhängigen durch Dritte kontrolliert werden kann: Bring mir das Foto mit dem richtigen Kreuz und deiner Hand, sonst ...

Ist halt nur nicht/kaum zu kontrollieren und eine Anpassung/ Verdeutlichung der Möglichkeit zur Unkenntlichmachung eines zunächst "falschen" Kreuzes (für's Foto) und der Setzung eines "richtigen" (zur Abgabe in die Urne) wäre womöglich die bessere Lösung eines Problems, das heute vlt. nicht unter den Nägeln brennt, aber in Zukunft, - mit dem Anwachsen eher demokratieferner Gruppen von innen wie auch durch Zuwanderung -, an Bedeutung gewinnen kann.

Ansonsten braucht man wie beim Analogverfahren viele Leute, ca. 200 bis 2000 Seiten an Verfahrensvorschriften, ordentlich aufgesetzte, geprüfte (-> BSI-Versagen!) Rechner mit diversen spez. Schutzvorkehrungen (Nochmal 200 Seiten zzgl. SourceCode & sicheren Compilaten) und gegebenenfalls auch eine Dezentralisierung: Letztere ist der beste Schutz vor "hinreichend" weitreichender Usurpation eines Systems. Sicher nicht mehr Arbeit als im Analogen, dafür für 90% aller Wähler und Wahlberechtigten deutlich bequemer, auch vom Ausland machbar (https ist sicher genug dafür, um nennenswerte Manip. u. Disclosure während/in der Übertragung zu verhindern).

|| Denn zwar gibt es das Wahlgeheimnis, aber irgendwo muss die Identifikation gewährleistet sein - sonst gibt es bald auch "fake democracy". ||
Das Problem ist nicht die Identifikation, - das macht ja jede Bank schon sehr gut. Ein "Pascha" kann über die gleiche Postanschrift für reale Leute (Personalausweis/-Kopie), die unter seiner Adresse gemeldet (->PersoAusw.), die von ihm/ihr abhängig sind und die unter einem ihm zugänglichen Briefkasten von der Post bedient werden, natürlich den Mehrfachkanal von Registrierung mit Post, TBestätigungen, TANs usw. per SMS, per Fingerabdruck, Kartenleser usw. bis zu den eigentlichen Transaktionen/Wahlakten hintergehen, aber ansonsten braucht man da für jede Identität auch je eine Postanschrift, auch unter gleicher Anschrift eine je Identität eigene Mobilnummer usw., so daß eine "serielle" Produktion von Mehrfachidentitäten, wie sie für wirksame Wahlmanip. in Großkreisen erforderlich sind, ausgeschlossen werden kann, wenn man das WILL. Sofern jedoch die echten, aber abhängigen Personen als Strohpuppe für andere dienen sollen, diese aber alle Sinne beisammen haben UND ohne Aufpasser aushäusig mit ihrem Ausweis unterwegs sein können, können sie auch jederzeit ihr Strohpuppen-Dasein zumindest invalidieren , ohne dass "Pascha" bei seinen künftigen "Transaktionen" etwas davon merkt, vielleicht auch eine alternative Post-Anschrift, ein echtes Passwort per Sonderregistrierung hinterlegen usw.

So und jetzt zu Nr 2., den eher inhaltlichen bzw. diskursiven Problemen im Zusammenhang mit der Liquid Democracy der Piraten ...


2. waren die Macher und Betreiber von LQFB/LD usw. gar nicht wirklich auf Diskurs eingestellt, hatten buchstäblich keine Ahnung von den grundlegenden (Rück-) Bezügen, n:m-Relationen bzw. deren Handling und anderen "Dispositiven" eines POLITISCHEN Diskurses, der sich halt weitgehend im Deontischen abspielt.
Sondern sie glaubten die lineare Indikativ-Logik, mit der man ganz prima viele Dinge in formalen Algorithmen lösen kann, schlicht auf das Deontische (Wille, Normen, Werte, ABSICHTEN ...) übertragen zu können, was nur in allereinfachsten Situationen mal gelingt, vergl. meinen Kommentar zu Nida-Rümelin und die Programmierbarkeit von Ethik für Dilemma-Situationen auf NZZ/Disqus, aber sobald z. B. viele Alternativen und Umstände einerseits und viele Absichten, Werte, Normen bzw. deren Personengruppen andererseits eine Matrix mit mehr als ca. 10 Elementen bilden, gibt es keine formale Logik mehr, mit der man formal-automatisch in etwa das Ergebnis einer ersten Abstimmung wieder treffen könnte, nachdem z.B. eine Alternative weggefallen, verändert worden oder eine hinzugekommen ist, eine Personengruppe weggefallen ist usw.

Alles, was da bisher an Algorithmen versucht wurde, verfehlte jedwede valide Fortschreibung des Gesamtbildes, stets war der übergroße Teil der Gesamtheit aller Partizipanten vom Fortschreibungsergebnis total enttäuscht, kam es zur 99%igen MISS-Repräsentativität. Von einer belastbaren Formallogik wie fürs Ontische/Indikative (inkl. der Möglichkeiten, die (anzunehmenderweise) SIND, nicht wären ...) sind wir Lichtjahre entfernt, wie schon die umfangreiche Literatur auch nur zu den Grundlagen formaler Deontologik mit vielen Prekaritäten offenbart.

Insoweit halte ich Thiel & Co. schlicht für Spinner, die keinen Erfolg haben werden, außer dem, der darin besteht, diejenige falsche Deontik aus der Politik zu lösen, die die indikativen Anteile von Diskursen & Entscheidungen im Politischen derzeit noch überdeckt.

Soweit dachten aber die LD-Macher sowieso nicht, wie man an den Entwickler-Blogs u. ä. sehen konnte.
Nachdem LQFB bei den Piraten lief, merkte man sehr schnell, daß eigentlich auch niemand wirklich diskutieren wollte.
Zusammen mit den aus Sicht der Partizipanten höchst erratischen "Ergebnissen" der technischen und verfahrensmäßigen Algorithmik vom Diskurs zum letztlichen Abstimmungsergebnis hatte sich das schnell als Mülltonne für Zeit und Kraft entpuppt.

Dabei ist die korrekte Vorbreitung von Abstimmungen das A und O, was in welcher Formulierung überhaupt angestimmt wird, mit alternativen oder nur ja/nein usw.

Vom OXI über die Schweizer, - wobei deren Abstimmungen manchmal noch ganz gut gemacht sind inkl. Info-Material - und die Krim bis zum Brexit streuben sich da einem nur die Nackenhaare!

Da eine Abstimmung selbst schon Politik ist, nicht nur künftige Politik bestimmt, regiert die Deontik stets mindestens mit, - so daß Abstimmungen über die Abstimmung und vor den Abstimmungen zur Abstimmungen noch weitere Abstimmungen nötig werden, um normativ überhaupt nur ansatzweise leidlich "sauber" aus der jeweiligen Nummer noch rauszukommen. Und schon sind wir bei den zähen "Geschäfts-/Diskurs-Ordnungsfragen", die derzeit noch jedes Interesse killen, gemäß der Devise "meinen und reden ja, handeln und arbeiten lieber nicht". (Aus dem "Volk"/demos läßt sich eben kein Parlament machen, denn wenn das ginge, wäre es kein Volk mehr ...)

"Die Kraft des Arguments" an die Habermas und viele andere angeblich glaub(t)en, lag in der Ontisierung/Ontiserbarkeit des Deontischen. Aber schon die Grundlage, daß Diskurs unhintergehbar sei, wenn man sich nicht selbst zerstören will, wie Apel meinte, gilt nur für Philosophie u. ä., eben nicht für Politik. Da kommt dann die nicht-diskursive "Durchsetzung" zum Zuge, von der allenthalben, von der Akademik bis zur Politik unter dem Segen von Apel bis Habermas reichlich gebraucht gemacht wurde, - und der die notwendige Zwangsform dann aber universalisierte, statt sich auf's hic et nunc zu beschränken. So kam es, daß jeder "westliche" Beutelschneider und Koofmich inkl. seiner bewaffneten Camarilla in den Ländern der Welt noch als Träger des Richtigen sich auf universale Geltung berufen konnte.

Menschenrechte sicher, aber Haft und andere Strafen für jene, die von und für Diskurse/n nicht erreichbar sind natürlich auch ... zur "Durchsetzung" eben. Aber da sind wir wieder in der Deontik, wonach sich eben bemißt, wer wann wofür wie hoch womit bestraft wird, und damit völlig außerhalb allen Universalismus, aller "Weltgeltung", die von den beiden Philos und ihren massenhaften Adepten so praktisch für den "Westen" behauptet wurde und noch wird.

Die Kraft eines Arguments, seine "Richtigkeit", stammt nicht aus trefflicher Ontik, - das ist bloß Bedingung, überhaupt Argument zu sein -, sondern aus seiner Kongruenz und Komplementarität zur je herrschenden Deontik.

Sicher kann man das a priori notwendigen "Sinns" auch auf alle Handlungen, allen menschl. Lebensvollzug jeder Kultur, Religion usw. beziehen und als Glaubwürdigkeitsanspruch zugrunde und als Maßstab an-legen. Aber dann können die konkreten Inhalte, die ja den Charme westl. Lebensweise wie den jeder anderen ausmachen, gerade NICHT mehr a priori "universell" sondern nur je "territiorial" gelten (der Raum wird auch sozial, semiotisch usw. bestimmt!), darüberhinaus nur eventuell erworben, nicht "durchgesetzt" werden. Sonst wäre jede andere Sinnbegründung/-konstitution a priori und damit auch letztlich noch, also in jedem Falle vor und nach jedem Argument "falsch", eine Falsifikation unserer Sinnstiftungen a priori ausgeschlossen, ergo stünde keine sinnvolle Prüfmethode zur Verfügung, ergo wäre das spekulative Metaphysik mit Anspruch auf's Ganze - wie war das noch mit den Totalitarismen des 20. Jhs? Behält man das letztere bei, gebiert man Monster und Habermas und Apel sind ihre geistigen Hebammen der Zeit, nach vielen anderen Vorgängern.

Wo das Volk das Parlamentarische nicht nachmachen kann, fällt den Eliten nach wie vor die Entscheidungsrolle zu, nicht den Diskursen und ihren Verfahren.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

dos

blender-studies since early 70ies.Im Zweifel links von der Sozialdemokratie.

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