Einer Wie Wir, Einer Von Uns?

Rassismus Mir gingen die Bilder meiner Bekannten und Lieben durch den Kopf, die in Deutschland geboren sind, andere Hautfarbe haben, viele auch Muslime sind.

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Irgendwas starb an diesem Tag in mir. Vielleicht war es die betagte Hoffnung, irgendwann Zuhause zu sein. In Hanau brachte ein Rassist 10 Menschen und dann sich selbst um.

Erfahren habe ich die Nachricht aus dem Radio am nächsten Morgen, als ich zur Arbeit fuhr. Wahrscheinlich ein Beziehungsdrama, hieß es im DLF. Dann stand ich im OP-Saal über 6 Stunden lang und gegen Ende dieser Operation erfuhr ich von meinem Kollegen der Anästhesie, dass es eine rassistische Tat war. In Hanau! Quasi im Rhein-Main-Gebiet, dem Inbegriff deutscher multikulturellen Gesellschaft, wo sich die Ströme aus aller Welt treffen.

Die Medien stürzten sich darauf. Twitter und weitere Social-Media-Platzhirsche lebten erneut auf. Mahnwachen, Lichterketten, Gedenkversammlungen und ähnliche Kundgebungen fanden statt. Eine große solidarische Welle fegte über das Land (durch). Den Namen des Täters habe ich bereits in den ersten Meldungen der Medien erfahren, die Opfer blieben namenlos. Sie waren mal Türken, mal junge Menschen mit Migrationshintergrund, mal jene, mal diese. Sie waren meist keine Deutschen. Und dann war wieder Ruhe.

Mir gingen die Bilder meiner Bekannten und Lieben durch den Kopf, die in Deutschland geboren sind, andere Hautfarbe haben, viele auch Muslime sind. Wenn diese meine Lieben oder ich aus Hass getötet werden, was für eine Meldung sind wir wert? Fremdenfeindlicher Anschlag? Menschen mit Migrationshinter oder -vordergrund wurden getötet? Muslime starben bei einem Anschlag? Würde irgendwo stehen, dass Deutsche umgebracht wurden? Je mehr ich darüber nachdachte, desto unruhiger wurde ich.

Deutschsein ist Weißsein. Die Gesellschaft will mehrheitlich keine andere Hautfarbe als die weiße als Deutsch anerkennen. Es wird immer die Frage nach der Herkunft gestellt. Es wird eine Trennung aufrechterhalten. Diese Trennung ist auf der ganzen Linie in dieser Gesellschaft vorhanden. Mit Sicherheit gibt es ein Großteil der Menschen, die Deutschsein nicht an einer bestimmten Hautfarbe ausmachen. Die letzten Monate zeigten mir einfach, dass gerade diese Menschen schweigen, zu sehr mit ihren Sorgen beschäftigt sind. Die Mehrheit dieser Gesellschaft hat geschwiegen. Sie hat wenig unternommen, um eine vermeintliche Minderheit zu beschützen. Sie tut es nicht, weil sie davon nicht betroffen ist? So hofft sie es zumindest, vielleicht.

Der Rassismus ist ein gesellschaftliches Problem, wovon auf den ersten Blick nur ein Teil derselben Gesellschaft, meistens Minderheiten und Schwache, betroffen zu sein scheinen. Warum also sollte sich die Mehrheit dieser Gesellschaft für diese „Minderheit“ einsetzen? Diese Frage stellt keiner, sie existiert aber unausgesprochen. Sie verwandelt sich, sie wird gedacht, sie wird in Worte formuliert, sie wird ausgesprochen und sie wird geschrieben. Warum steht diese Mehrheit dieser Gesellschaft nicht geschlossen auf? Interessiert sie denn nicht diese Seelen, die anders erscheinen, aber nicht anders sind? Würde diese schwache Minderheit soviel Macht haben, die Dinge zu ändern, würde sie auf die Hilfe dieser großen, schweigenden oder ignoranten Masse hoffen?

Im Prinzip verliert diese Mehrheitsgesellschaft auf diesem Weg allmählich eins der obersten Güter einer funktionierenden, moralisch erhabenen Gesellschaft: Für die Rechte der Benachteiligten aufstehen, nicht nur für die eigenen. Eine Mehrheitsgesellschaft heißt niemals, dass nur die mächtige Mehrheit privilegiert sein darf. Wer so denkt, legitimiert all die Staaten, in denen Minderheiten aufgrund ihrer Religion, der Hautfarbe, des Geschlechts, der ethnischen Zugehörigkeit unterdrückt und verfolgt werden.

Seit über 30 Jahren erlebe ich diesen Rassismus, diese Diskriminierung, mehr oder weniger ausgeprägt im Alltag. Andere erleben ihn lebenslang schon und viel heftiger. Darauf angesprochen erhalten viele die gängige Antwort: Geh doch zurück, wenn es dir hier nicht passt. Ähnliche Antworten in Behörden, in Einkaufsläden und auf der Straße kommen aus den Lippen der normalen Mitbürger. Der Alltagsrassismus wird zu oft von den "normalen" Menschen nicht mal erkannt. Sie geben nicht mal zu, dass sie und ihre Worte rassistisch klingen. Für sie scheint all das eine Selbstverständlichkeit zu sein. Der Türke von nebenan hat das hinzunehmen. Der Afrikaner (obwohl Afrika 2. Größter Kontinent ist) soll sich nicht so sentimental anstellen. Es seien doch unnötige Befindlichkeiten. Zusätzlich kommen dann Kommentare von den Weißen, sie werde im Urlaub doch auch so schief angeguckt, um die Erfahrungsberichte der Betroffenen zu diskreditieren.

Die Liste der Hasskommentare ist lang. Die Liste der Anstrengungen aber umso kürzer. Der Artikel 3 des Grundgesetzes verbietet die meisten Arten der Diskriminierungen. Es ist aber bei diesem gutgemeinten Artikel geblieben. Im Alltag herrschen der Rassismus und darauf basierende Diskriminierung weiterhin. Der Wohnungsmarkt ist ein Paradebeispiel dafür. Auf der Jobsuche zeigt sich der Rassismus auf der ganzen Strecke. Es werden Begriffe erfunden, um das alles zu legitimieren. Im Gerichtssaal, wo Kreuze aufhängen, werden Urteile über die Neutralität des Staates in Bezug auf Kopftuch gefällt. Eine Doppelmoral auf Kneipenniveau sowie im intellektuellen Bereich durchzieht diese Gesellschaft und wird von Tag zu Tag offensichtlicher.

Zurück zu einer persönlichen Definition des verneinten Rassismus: Welche Bezeichnung sind ich und meinesgleichen Wert, die so viele Weiße gerettet haben, wenn wir ermordet werden? Wenn die Antwort nicht „Einer Wie Wir, Einer Von Uns“ lautet, dann sind Sie ein Rassist.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Dr. Mohammed Sarfraz Baloch

Ein Neurochirurg mit Herz • Deutschland ist meine Heimat • Abteilungsleiter • Saving lives & helping people • Deutscher Muslim • Schreibe privat •

Dr. Mohammed Sarfraz Baloch

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