Lägerdorf

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Lägerdorf kennst du?, fragt Mario.

Oben vor Flensburg?, frage ich.

Kann sein, sagt er. Eher bei Hamburg. Du bist der jüngere Bruder?

Stimmt.

Mario hat das Fenster geöffnet und grüßt, als wir zum Auto aufbrechen. Er hat langes lockiges Haar, trägt Schnurrbart, hat ein leicht aufgedunsenes Gesicht und sieht wohlgenährt aus.

Weißt du, was gut kommt?, ruft er meinem Bruder zu.

Na was denn? Nicht Bier?

Whiskey, ruft Mario. Flasche ist noch halb voll.

Nicht jetzt, sagt mein Bruder, winkt Mario zu und erklärt, wieder mir zugewandt, Lägerdorf habe mit Steinen zu tun. Kalkstein oder so ähnlich. Auch Fossilien vermutlich. Mario besitze eine Steinsammlung.

Marios Wohnung, das hat mein Bruder noch auf seiner Dachterrasse erzählt, der Kaffee wie üblich recht dünn, sei völlig unaufgeräumt, doch die Steinsammlung: perfekt geordnet, fein säuberlich aneinandergereiht, kein Stein ohne Fundort und Datum, du glaubst es kaum. Er stand auf und holte einen geschliffenen Mineraldurchschnitt. Jedesmal wenn Mario ihn besuche, betrachte er diesen Stein mit glänzenden Augen.

Hier in der Anlage, sagte er, wohnen besondere Leute. Er lachte. Mario, erklärte er, wurde aus dem Behindertenheim ausquartiert, weil es überbelegt war. Die Wohnung sei vom Heim angemietet. Mario fühle sich pudelwohl.

Geistig behindert? Nein, das falle gar nicht so auf. Alles in allem habe er sein Leben eingerichtet. In den engen Grenzen, die er vorfinde. Tagsüber arbeite er in einer Behindertenwerkstatt im Nachbardorf. Nein, bezahlt werde er nicht für seine Arbeit. Der staatliche Träger komme für alles auf, jeden Montag erhalte er fünfzig Euro Taschengeld. Du solltest ihn mal sehen. Am Freitag bringt er mir oft einen Teller Suppe vorbei. Aus der Kantine. Er weiß, daß ich ihm dafür fünf Euro bezahle, freitags ist er immer knapp bei Kasse. Mein Bruder lächelt. Ja, er komme gut mit ihm aus. Die kranken Geistes, fügt er hinzu, die Scharfmacher, die Irreführenden in diesem Land, die sitzen woanders.

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Geschrieben von

Dreizehn

Lebe in einem Winkel der Stadt, lese, schreibe gelegentlich.

Dreizehn

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