Interview Anfang August wird in Dortmund ein 16-jähriger Flüchtling von der Polizei erschossen. Die Grüne Mirrianne Mahn weiß, dass rassistische Polizeigewalt in Deutschland Alltag ist. Im Interview erzählt sie, was sich ändern muss
Der brutale Tod von George Floyd 2020 löste auch in Deutschland Black Lives Matter-Proteste gegen Polizeigewalt aus
Foto: Michele Tantussi/Getty Images
Ein junger Mensch kommt mit 16 Jahren bei einem Polizeieinsatz in Dortmund am 8. August ums Leben. Es ist der vierte Todesfall nach einem Polizeieinsatz innerhalb einer Woche. Sechs Schüsse aus einer Maschinenpistole werden auf den jungen Geflüchteten abgefeuert. Fünf davon treffen seinen Körper und er verstirbt im Krankenhaus.
Gegen den Polizeibeamten in Dortmund, der die Schüsse abgab, wird nun wegen des Verdachts auf Körperverletzung mit Todesfolge ermittelt. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) sicherte am Dienstag im Hauptausschuss des Düsseldorfer Landtags eine vollständige Aufklärung des Dortmunder Falls zu, die Ermittlungen werden noch einige Wochen andauern. Mirrianne Mahn, Aktivistin und Stadtverordnete der Grünen in Frankfurt am M
kfurt am Main, veröffentlichte kurz nach der Tötung des jungen Geflüchteten auf Instagram ein emotionales, achtminütiges Statement zur Polizeigewalt in Deutschland.der Freitag: Frau Mahn, am 8. August hat die Dortmunder Polizei mehrmals auf einen 16-jährigen Geflüchteten aus einer Jugendhilfeeinrichtung geschossen. Was genau hat Sie danach dazu bewogen, Ihr Video zu veröffentlichen und Polizeigewalt anzuprangern?Mirrianne Mahn: Als Aktivistin mache ich seit Jahren auf Polizeigewalt aufmerksam, unter anderem am 15. März, am Internationalen Tag gegen Polizeigewalt, wo ich mit Copwatch, einer Informations- und Dokumentationstelle für Betroffene rassistischer Polizeigewalt, zusammenarbeite. Racial Profiling und Polizeigewalt sind ein zu großes Problem in Deutschland. In Frankfurt, wo ich Stadtverordnete bin, wurde ein schwarzer Mann wenige Tage vor dem Vorfall in Dortmund getötet. Alle Informationen, die öffentlich zugänglich waren, waren aus Sicht der Polizei und das hat mich wütend gemacht. Das Video war der Versuch, zu zeigen, von welcher Krankheit diese tödlichen Polizeieinsätze die Symptome sind.Was passiert, wenn man sich wie Sie öffentlich gegen Polizeigewalt ausspricht?Ich habe viele Hassnachrichten erhalten und wurde bedroht. Es gibt Menschen, die finden, dass ich als nichtweiße Person die Polizei nicht kritisieren darf. Ich denke aber, dass wir alle die Polizei kritisieren sollten. Ich bin Politikerin und ich finde, es ist auch die Aufgabe der Bevölkerung, mich als Politikerin zu beobachten und zu kritisieren. Weil wir immer einen kritischen Blick auf Machtpersonen -und institutionen haben sollten.Warum, denken Sie, wurde der Jugendliche getötet? Er sprach kaum Deutsch, war wohl sichtlich psychisch angeschlagen und hatte ein Messer in der Hand.Fehlende Deeskalation und Rassismus sind ein Teil davon. Der Rassismusfaktor kann unterbewusst geschehen, weil weiße Menschen weniger Empathie mit schwarzen Menschen haben. Ich erinnere mich an den Fall des Essener 16-jährigen Gymnasiasten, der im Juni einen Amoklauf plante. Er war bis an die Zähne bewaffnet, hatte Sprengstoff gebunkert und war wirklich gefährlich. Dieser Jugendliche wurde verhaftet und in Gewahrsam genommen. Und wenn du einen Jugendlichen, der Hilfe braucht, zu einer Gefahr hochstilisierst, so sehr, dass sechs Schüsse abgegeben werden, dann ist das Rassismus. Schwarze Körper werden entmenschlicht. Von mir aus kann er auch kriminell gewesen sein, aber die Polizei ist nicht dazu da, um zu richten. Im schlimmsten Fall hätte sie ihn in Gewahrsam nehmen müssen, um ein Gericht darüber urteilen zu lassen. Es kann nicht sein, dass elf Beamte vor Ort sind und dass dieser Einsatz für den Jugendlichen tödlich endet. Das darf nicht sein.Beim Stichwort Polizeigewalt denken viele Menschen eher an die USA. Warum?Hier in Deutschland werden im Vergleich zu den USA ziemlich wenige Menschen von der Polizei erschossen. Aber der Teil dieser Einsätze, die tödlich enden, und die People of Colour betreffen, ist sehr viel höher. Dafür, dass Schwarze eine viel kleinere Minderheit in Deutschland darstellen als im Vergleich zu den USA, ist es krass, dass von vier Toten in einer Woche drei Menschen Migrationsgeschichte hatten, davon waren zwei Menschen Schwarz.Denken Sie, dass das Thema Rassismus in der Polizei kleingeredet wird, weil es die Mehrheitsgesellschaft eben nicht betrifft?Diejenigen, die die Entscheidungsmacht haben, sind nicht von dem Problem betroffen. Und deswegen ist es ihnen scheißegal. Aber nehmen wir Walter Lübcke, den weißen CDU-Politiker, der in Kassel getötet wurde. Sein Täter hatte zuvor einen Mann of Colour lebensgefährlich verletzt. Die Polizei hat ihn nicht ernst genommen. So konnte der Täter Walter Lübcke ermorden. Das müssen sich die Entscheidungsträgerinnen bewusst machen. Wir brauchen Solidarität aus allen Schichten dieser Gesellschaft, weil jeder sich überlegen sollte, ob er oder sie in einem Deutschland leben möchte, wo ein Jugendlicher, der Hilfe braucht, am Ende tot ist.Vielleicht ist es auch noch mit dem Image der Polizei verbunden, als Freund und Helfer.Genau, aber für wen? Racial Profiling macht etwas sehr Interessantes mit dieser Gesellschaft: Aufgrund ihres Aussehens werden Männer of Colour überproportional oft kontrolliert. Und je öfter man kontrolliert, desto häufiger wird man etwas finden. Würden weiße Menschen genauso oft untersucht, würde man dementsprechend ebenfalls öfter Drogen oder andere Straftatbestände feststellen können. Von diesen kontrollierten Männern of Colour sind viele unschuldig. Was sieht aber die Gesamtbevölkerung? In der Innenstadt werden zum Beispiel Menschen of Colour häufiger festgehalten. Wir sehen aber nicht, wie viele dieser Menschen dann gehen dürfen, weil sie nichts falsch gemacht haben. Aber das Bild in der Dominanzgesellschaft manifestiert sich. Und das ist gefährlich, vor allem für Männer of Colour. Es bringt einen Rattenschwanz an Problemen mit sich: Sie gehen nicht mehr zur Polizei, um Hilfe zu erbitten oder um als Zeugen auszusagen. Dieses Misstrauen ist so fest in den Communities! Das Problem dabei ist: Auch wir brauchen die Polizei und auch wir müssen der Polizei vertrauen. Der Ball liegt jetzt aber auf der Seite der Polizei, sich dieses Vertrauen wieder zu erarbeiten.Wie?Polizist*innen sollten ganz spezifisch darauf trainiert werden, diese Sehgewohnheiten zu verlernen. Wir alle müssen unsere Sehgewohnheiten verlernen. Aber nicht alle von uns laufen mit Schusswaffen herum. Wem geben wir also das Gewaltmonopol? Die Macht, die die Polizei hat, ist unangetastet und es gibt bisher keine unabhängige Kontrollinstanz.Eine Form der Kontrolle wären unabhängige Studien zur Polizeigewalt. Der Kriminologe Tobias Singelnstein hat 2019 in einer größeren Studie festgestellt, dass es ein großes Dunkelfeld zu den Meldezahlen zur Polizeigewalt gibt. Er geht davon aus, dass nur etwa ein Fünftel der Fälle gemeldet werden und rechnet so mit etwa 12.000 Verdachtsfällen im Jahr.Das ist mir ganz wichtig: Von diesen geschätzten 12.000 Verdachtsfällen werden höchstens 4.000 überhaupt gemeldet und von diesen wird wiederum nur in knapp 40 Fällen ermittelt.Was müsste sich Ihrer Meinung nach in der Ausbildung der Polizist*innen ändern?Es wäre zu einfach zu sagen, wir müssen die Ausbildung verändern. Vielmehr sollte bei der Rekrutierung darauf geachtet werden, nicht in rechtslastigen Foren und Printmedien zu inserieren. Weil sie damit aktiv Menschen anziehen, die teilweise aus den falschen Gründen dieses Gewaltmonopol innehaben wollen. Die psychosoziale Schulung sollte in einer pluralistischen Gesellschaft eine viel größere Rolle spielen, mentale Gesundheit spielt einfach eine große Rolle bei den meisten Polizeieinsätzen. Dann muss wirklich überlegt werden, ob wir unsere Polizei weiter in dieser Form bewaffnen und immer mehr bewaffnen wollen. Die Ausrüstung ist eigentlich für Kriegsszenarien gedacht. Und wenn man mit dieser Einstellung in Konfliktsituationen gerät, macht das eine Deeskalation schwieriger.Merken Sie es an Ihrer politischen Arbeit oder auch in Ihrem Umfeld, dass Polizeigewalt und die Tötungen von People of Colour etwas auslösen?Ganz klar. Als George Floyd passiert ist, ging eine Welle durch die Welt. Aber diese Welle hat weiße Menschen ergriffen. Für People of Colour war das keine Überraschung. Als politische Person werde ich immer wieder angesprochen von People of Colour, die übermäßiger Polizeigewalt gegenüberstehen und die Organe, die wir haben, um diesen Menschen zu helfen, sind beispielsweise Response, ein gemeinnütziger Verein, der Menschen berät, die Opfer von Polizeigewalt geworden sind oder auch Copwatch. Wir brauchen aber eine unabhängige Melde- und Ermittlungsstelle.Sie sitzen als Stadtverordnete für die Fraktion der Grünen im Frankfurter Stadtparlament. Können Sie als Lokalpolitikerin etwas bewirken?Ganz wenig, weil Polizei Landessache ist. Ich kann meine Plattform nutzen, um Aufmerksamkeit auf die Themen zu lenken und Druck auszuüben.Was müsste auf bundesweiter Ebene politisch passieren?Drogen müssten entkriminalisiert werden. Die Polizei müsste reformiert werden. Und wir brauchen Daten: Der Korpsgeist, der bei der Polizei und der Bundeswehr herrscht, muss durchbrochen werden. Polizist*innen, die jeden Tag einen tollen Job machen, für die wünsche ich mir, dass sie die Möglichkeit haben, dass sie ohne Schandfleck ihre Arbeit machen können. Unsere Bundesinnenministerin Nancy Faeser sagte, dass die Bedrohung von rechts die größte Gefahr für unsere Demokratie im Moment ist. Wie soll denn die Institution, der wir das Gewaltmonopol geben, auch nur annähernd dazu befähigt werden, der größten Gefahr unserer Demokratie zu begegnen, wenn sie sich selbst nicht darüber im Klaren ist, wie diese Gefahr überhaupt aussieht? Es geht mir hier um die Polizist*innen, die einfach nur ihren Job machen wollen, sich aber nicht dessen bewusst sind, dass wir in einer rassistischen Gesellschaft leben und deshalb Rassismen internalisiert haben und die sie beeinflussen bei ihrer ganz normalen Arbeit. Das ist scheiße, wenn es im medizinischen Bereich passiert oder in der Schule – aber wenn es bei der Polizei passiert, könnte ich halt mit einer Kugel im Kopf enden.