Das Wesen der publikativen Gewalt

Journalismus Der Fall Relotius porträtiert die Fehler eines Einzelnen, doch legt den neoliberalen Charakter der Presse frei. Der inhärente Leistungsdruck schadet deren Aufgabe.

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Die Häme ist groß. Der Aufschrei nicht minder. Und es legt Widersprüchlichkeiten offen. Der Journalist Claas-Hendrik Relotius, welcher erst in diesem Jahr den Deutschen Reporterpreis und den Peter-Scholl-Latour-Preis für seine Reportagen erhielt, steht wegen mehrerer erfundener Reportagen im Zentrum der Öffentlichkeit. Ullrich Fichtner vom SPIEGEL, bei dem Relotious seit 2017 fest angestellt ist, rekonstruierte den Fall. Vorausgegangen war die Skepsis des Mitautors Juan Moreno, mit dem Retolius an der Reportage „Jaegers Grenze“ mitarbeitete. Moreno hinterfragte die Quellen und Fakten seines Kollegen, wobei er beim SPIEGEL auf wenig Verständnis stieß. Daher folgte er auf eigene Kosten Retolius, um den „Märchenerzähler“ zu enttarnen. Und es wart mit Erfolg gekrönt. Nicht nur die jüngste Reportage basiert auf einer Konstruktion Relotius, sondern es scheint, dass mindestens 14 der von ihm verfasster Texte partiell gefälscht seien. Relotius sei kein Reporter, sondern jemand, der „schön gemachte Märchen erzählt, wann immer es ihm gefällt“, so Fichtner in der Aufarbeitung. Relotius selbst verstand es rhetorisch perfekt, sich der Sache zu stellen, offenbarte jedoch mit seiner Äußerung, nicht scheitern zu wollen. Das entschuldigt mitnichten die angewandte Methodik der Verfälschung respektive Erfindung. Dennoch steht der Journalismus in einem stetigen, diametralen Verhältnis der Information und des Verkaufs. Der Journalismus muss sich von seinem neoliberalen Korsett befreien.

FAZ-Redakteur Reinard Bingener twitterte, dass der Journalismus „sogenannte ‘Geschichten’ als Leitwährung“ nutze. Die dadurch erwirkte Diskrepanz ist auch Resultat des Wettbewerbs zur Verteidigung der eigenen Marke. Besonders schmerzhaft wird es in Fall Relotius, da der SPIEGEL sich als Magazin präsentiert, das großen Wert auf Faktentreue und Seriosität legt. Die gescheiterten, internen Mechanismen sind ein Teil der Aufarbeitung, doch auch das Arbeiten der Journalist*innen. Als kritisches Moment der gesellschaftlichen Öffentlichkeit ist es nicht seine Aufgabe, die Realität zu inszenieren, sondern sie kommentierend abzudecken. Denn es ist mitnichten so, dass der Journalismus eine neutrale Instanz sei. Er ist immer Abbild und Ergebnis der redaktionellen Entscheidung, Schwerpunktsetzung und auch der Auswahl der Journalist*innen. Eine Konsequenz darf die Verwässerung bzw. Verkürzung eines Sachverhaltes jedoch nicht sein. Nichtsdestoweniger verkommt der Nachrichtenwert häufiger zu einem sich selbst verkaufenden Produkt, bei der besonders der Springer-Verlag eine unrühmliche Rolle spielt. Inwieweit Claas Relotius Opfer des eigenen Drucks wurde, ist (noch) nicht zu erklären. Die Verankerung des Neoliberalismus in politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Sphären lässt jedoch auch die vermeintlich korrektive Instanz Journalismus nicht aus.

Die Aufgabe des Journalismus ist die Funktion einer kritischen Begleitung gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Positionierung dessen ist dabei nicht ausschlaggebend, sondern die Betrachtung des Subjekts. Die Benennung einer Thematik beziehungsweise die Aufmachung arbeitet verständlicherweise mit rhetorischen und sprachlichen Mitteln. Denn grundsätzliches Ziel ist immer, die Leser*innen respektive das bevorzugte Klientel zu erreichen. Eine dadurch betonte Überparteilichkeit ist dabei ebenso unmöglich wie die abzuleitende Neutralität. Eine Schwerpunktsetzung mit unterschiedlichen Meinungen ist dahingehend kein Widerspruch, sondern erwünschter Effekt und lediglich oberflächlich eine Polarisierung. Das Mantra des ewigen Wachstums findet sich so nach ebenfalls im Journalismus, in dem zweierlei gemessen wird. Die Absatzzahlen und der Verkauf des eigenen Werts. Claas Relotius ist ein Beispiel hierfür, wie sich der ewig währende Versuch, sich selbst zu übertreffen, folglich scheitern musste. Den Fehler und die Problematik dahinter einzig auf die Journalist*innen abzuwälzen, ist nicht nur verkürzt, sondern auch Ergebnis der eigenen Abkapselung. Gemeint ist hierbei eigene Machtstellung im Vergleich zur ursprünglichen gesellschaftlichen Aufgabe.

Dem Journalismus weltweit bleibt nichts anderes übrig, als sich selbst einer radikalen Reform zu unterwerfen. Die schwer zu bewältigende Aufgabe verbirgt sich auch in der ungenügenden Bezahlung von (freien) Journalist*innen, denen de facto nichts anderes übrig bleibt, als Zeilen vor Inhalt zu stellen, um wortwörtlich überleben zu können. Das ist allerdings eine grundsätzliche Frage und nur in einer generellen gesellschaftlichen Umwälzung zu ändern. Unabhängig davon muss sich der Journalismus jedoch seines mächtigen Instruments wieder bewusst werden und es nicht im Sinne des Produkts, sondern der Vermittlung von Wissen, Information und Propaganda anwenden. Denn auch das ist Fakt: ein Presseerzeugnis ist seiner Substanz nach immer ein propagandistisches Mittel. Die formale Distanz der Formulierung aufgrund historischer Ereignisse spricht sie nicht von dem Faktum frei. Der stets postulierte Mut der sogenannten „vierten Gewalt“ ist einzig in vereinzelten Fällten zu finden, doch grundsätzlich als produktives Instrument völlig verloren gegangen. Den Finger in die Wunde zu legen solle keine Rarität sein, sondern natürliches Verhalten der Presse. Um sich dem Vorwurf der radikalen Rechten als „Lügenpresse“ zur Wehr zu setzen, ist es zu wenig, es einfach zu überhöhen. Speziell Fälle wie Relotius zementieren diesen Vorwurf, wie das schnelle Agieren des AfD-Abgeordneten Götz Frömming zeigt.

Fehler sind menschlich und trotz des Anspruchs der Faktentreue eine Notwendigkeit des Journalismus. Das ist auch nicht schlimm. Schädlich wird es erst dann, wenn man sich diese Fehler nicht eingesteht und entsprechend agiert, wie der Marxist Ted Grant einst sagte. Das Handeln des SPIEGEL ist dabei vorbildlich, auch wenn die hauseigenen Mechanismen scheiterten und der Bericht selbst sich derselbigen Methodik bedient, was auf Twitter sowohl positiv als auch negativ rezipiert wurde. Der erwähnte Fall ist schwerlich ein Einzelfall, doch die Berühmtheit des Journalisten legten die Schwächen offen. Der Konkurrenz- und Leistungsdruck in der Presse ist ein Hauptgrund der schleichenden Selbstleugnung der intendierten Aufgabe. Die Sensation sollte drastisch zurückgeschraubt werden, in deren Aufgabe auch Netzwerke wie beispielsweise des Reporter-Forums e.V., die gerade die partielle Sensationslust - wie auch im Falle Relotius - belohnen, zu erwähnen ist. Was bleibt ist die Erkenntnis, dass der*die jeweilige Journalist*in stets ein Produkt seiner Umwelt ist und dahingehend zu handeln versucht. Das ist die Natur der Klassengesellschaft und schwer zu verurteilen. Gerade deswegen ist er jedoch unersetzlich und muss sich seiner gesellschaftlichen Aufgabe tagtäglich bewusst sein, ohne in die Geschichte zu fallen. Denn "die Geschichte" stehe "über sperrige Fakten", wie Kai Kupferschmidt auf Twitter schrieb. Reportagen wurden zu Geschichten und dahingehend nach dessen Regeln bewertet. Erst die Abkehr davon und das Anerkennen der vermittelten und gleichzeitig propagandistischen Rolle wird den Journalismus aus der selbstauferlegten Sackgasse helfen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elisa Nowak

Freie:e Journalist:in aus Konstanz

Elisa Nowak

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