(K)ein Staat ohne Kritik

Debatte Darf man den israelischen Staat kritisieren? Das wird zwar gemeinhin bejaht, doch in der Praxis sieht das anders aus. Dabei ist nicht die Kritik am israelischen Staat antisemitisch, sondern die Verneinung der Kritik.

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Darf man einen Staat kritisieren? Die menschliche Vernunft würde diese Frage, wenn nicht sogar muss sie bejahen. Diese besondere Freiheit der Kritik entsteht aus der Kritik der Gesellschaft, die als Errungenschaft der bürgerlichen Aufklärung verstanden wird. Dass dabei Staaten in unterschiedlicher Intensität eine Kritik erfahren, ist Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft, in der wir leben. So ist in der westlichen Welt die Kritik an der Volksrepublik China oder der Russischen Föderation eine andere als beispielsweise die Kritik an einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union. Es hat nicht nur eine gesellschaftliche, sondern auch eine ideologische Variabel, die in den vergangenen Jahren immer konkreter wird. Ihnen gemein ist allerdings, dass die Staatskritik per se keine generelle Verurteilung erfährt, solange sie in einem Rahmen stattfindet, die der eigenen Ideologie nicht gefährlich wird. Doch wie seit dem 7. Oktober 2023 besonders deutlichwurde,scheint ein Staat von dieser Regel ausgenommen, in der die Staatskritik selbst eine Kritik erfährt, die nicht nur eine gesellschaftliche und ideologische, sondern auch eine historische variabel hat: der israelische Staat.


Nun wird sowohl in der bürgerlichen Kultur, Wissenschaft als auch Politik stets betont, dass die Kritik am israelischen Staat ebenso Ausdruck der Vernunft sei wie jede andere Staatskritik auch. Doch der israelische Staat ist nicht nur ein bürgerlich-kapitalistischer, sondern auch eine Besatzungsmacht.Nunsollte man gemeinhin meinen, dass eine Besatzungsmacht die Staatskritik noch deutlicher verdient, da hier augenscheinlich ein anderes Volk unterdrückt wird beziehungsweise ihrer Rechte beraubtwird. Doch der israelische Staat versteht sich als „Heimatstätte des jüdischen Volkes“, das der zionistischen Ideologie folgt. Dadurch läuft die Staatskritik Gefahr, eine Kritik am jüdischen Volk zu sein – so die vermeintliche Sorge. Diese Sorge hat allerdings nur dann Substanz, wenn der Staat mit dem jüdischen Volk gleichgesetzt wird. Doch eine Staatskritik ist keine Kritik an der Gemeinschaft, sondern der Funktion des Apparats und seiner herrschenden Klasse. Die Frage ist jetzt also: darf ein selbsternannter jüdischer Staat kritisiert werden? Hier entsteht ein scheinbar nicht aufzulösendes Dilemma: bejaht man es, kann die Staatskritik genau dann als antisemitisch bezeichnet werden, wenn das „jüdisch“ eine Kritik erfährt; verneint man es, ist die Staatskritik genau dann antisemitisch, wenn das „jüdisch“ keine Kritik erfährt.


„Jüdisch“ ist freilich der falsche Ausdruck für den israelischen Staat. Er ist ein zionistischer Staat. Dadurch wäre die Staatskritik, wenn der Zionismus kritisiert wird, nicht antisemitisch, sondern antizionistisch. Doch auch dann steckt man im selben Dilemma, wie oben erwähnt: Die Staatskritik wird selbst Gegenstand einer Kritik. Und hier ist es schlechterdings sekundär, ob man den israelischen Staat „jüdisch“ oder „zionistisch“ nennt, denn abgesehen davon, dass von den Verfechter*innen der Kritik an der Staatskritik „jüdisch“ und „zionistisch“ gleichgesetzt wird, wird gerade diese (Selbst-)Zuschreibung als notwendig und hinreichendes Argument benutzt, die Staatskritik zu delegitimieren und wird damit selbst zum Gegenstand der zugeschriebenen Staatskritik-Kritik. Das heißt: Wer die Staatskritik am israelischen Staat verneint, weil es der israelische Staat ist, entfremdet die Individuen, die unter diesen Gegenstand fallen, als handelnde Akteur*innen. Somit wird ihnen nicht nur die Handlungsfreiheit, sondern auch die Willensfreiheit abgesprochen, was zu einem Antisemitismus führt, der sich aus der vermeintlichen Kritik am Antisemitismus ergibt. Es ist dabei wichtig zu betonen, dass der Antizionismus nicht die Feindschaft gegenüber dem Judentum bedeutet, sondern gegen die zionistische Ideologie.


Wer das heutige Handeln des israelischen Staats verurteilt, wird immer häufiger damit konfrontiert, Antisemit*in zu sein. Die Kritik an der Staatskritik ist zu einer Kritik an der menschlichen Vernunft geworden. Die Kritiker*innen sehen den israelischen Staat als kollektiven Ausdruckdes Judentums, was zur faktischen Negation des heterogenen Charakters führt.DieKonsequenz ist, dass der israelische Staat nicht mehr als bürgerlich-kapitalistischer Staat verstanden wird, sondern als das Judentum als solches, das als Ausdruck seiner Geschichte über der bürgerlichen Vernunft stehen muss, da diese erst den Antisemitismus in seiner jetzigen Form ermöglichte. Dadurch wird jede Idee und jedes Handeln des israelischen Staates als notwendiges Mittel des Überlebens bezeichnet, selbst wenn es wie in der jetzigen Situation zu fürchterlichen Verbrechen führt wie der Bombardierung von Krankenhäusern und der Ermordung von mehr als 10.000 Palästinenser*innen.


Die Immunität nicht nur vor der Staatskritik, sondern jeder Kritik entmenschlicht das Judentum in der Hinsicht, dass die Barbareizur höchsten Formder Vernunft verkommt. Ob den Kritiker*innen der Kritik am israelischen Staat dies bewusstist,mag zweifelhaft sein. Sie sehen sich auf der richtigen Seite der Geschichte, in dem sie im Namen des Kampfes gegen „jeden Antisemitismus“ den Antisemitismus noch bestärken, da der israelische Staat, der Zionismus und das Judentum zu einem kollektiven Einheitsblock verkommt. Die zynische Konsequenz der Verteidiger*innen des Handelns des israelischen Staates bezichtigen dabei nicht nur linken Kritiker*innen, sondern auch bürgerliche Staaten, Politiker*innen und Menschenrechtsorganisationen des Antisemitismus, wenn das Geschehen verurteilt wird. Der Kampf gegen „jeden Antisemitismus“ macht dabei den israelischen Staat und das Judentum ideologisch zum Opfer, in eine unterdrückte Minderheit, die sich gegen eine gewaltige Mehrheit zu behaupten hat, die scheinbar schon immer das Judentum bekämpfte. Diese boshafte und gefährliche Schlussfolgerung verunmöglicht dabei nicht nur eine Befreiung des jüdischen Volkes, sondern erschwert auch den Kampf gegen den Antisemitismus an sich. Die Kritik am israelischen Staat ist eine dringende Notwendigkeit, mitall seiner Konsequenz und Gebot der menschlichen Vernunft. Die Verneinung dieser Kritik ist Ausdruck eines Antisemitismus, wieoben dargelegt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elisa Nowak

Freie:e Journalist:in aus Konstanz

Elisa Nowak

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