Ich bin Autistin – und das ist auch gut so

Autismus Asperger-Autist*innen werden als empathielose und psychisch kranke Mitmenschen bezeichnet. Dabei sind sie einzigartige Rationalist*innen.

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Wenn die Argumente ausgehen, ist es leider nicht unüblich, auf persönlicher Ebene zu attackieren. Die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg hat das Asperger-Syndrom und geht damit offen um. Diese Offenheit wird in der BRD besonders von den radikalen Rechten und Rechtskonservativen ausgenutzt, um ihr politisches Engagement und hiernach auch ihre Meinung zu diskreditieren. Martin Reichardt von der Alternativen für Deutschland (AfD) beispielsweise bezeichnet sie als „offenbar psychisch krank“ und spricht ihr somit eine Legitimation ab, sein Kollege Frank Pasemann tut es ihm gleich und schreibt von einer „autistischen Schwarz-Weiß-Welt“. Geht man tiefer in die Kommentarspalten hinab, wird man mit noch derberen Feindseligkeiten konfrontiert, die vor allem eines offenbaren: Unwissenheit.

Der Begriff Autismus ist in der gesellschaftlichen Kultur latent negativ behaftet. So werden auch im politischen Betrieb besonders monotone und unflexible Praktiken, Entscheidungsfindungen und Arbeiten „autistisch“ geschimpft. Thunberg selbst sagte in einem Interview, ohne den Asperger-Autismus hätte sie sich „gar nicht in diesem Maße für den Klimaschutz“ einsetzen können. Leonhard Schilbach, geschäftsführender Oberarzt am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München, pflichtet ihr bei, spricht jedoch ebenfalls von einer „geistigen Behinderung“. Davon gilt es endlich loszukommen.

Oops! Wrong Planet!

Der britische Psychologe Tony Attwood, ein Spezialist im Bereich Asperger-Autismus, betrachtete die autistischen Kinder immer als besondere Menschen. Behindert waren sie für ihn nicht, sondern Menschen, die die Informationen der Welt, Umgebung und Selbstwahrnehmung anders dosiert und entschlüsselt verarbeiten. Im englischsprachigen Raum ist die Selbstzeichnung „Oops! Wrong-Planet-Syndrom“ verbreitet, was die Selbstwahrnehmung verdeutlichen soll, Asperger-Autist*innen seien auf dem falschen Planeten gelandet, deren sozialen Regeln und Kommunikationsmuster sie nicht verstehen. Autist*innen sind nicht „behindert“, sondern lesen, denken und verstehen ihre Umgebung anders.

Ob das nun negativ oder positiv gedeutet wird, wurde bereits in den Extremen manifestiert, dass man einerseits verstorbenen Persönlichkeiten wie Albert Einstein und Wolfgang Amadeus Mozart postum als Autisten wahrnahm, derweil konträr dazu von Menschen gesprochen wird, welche „psychisch krank“ und „lebensunwürdig“ seien. Keine der beiden Kontrapunkte widerspiegeln die Realität, sondern sind problematisch. Denn sowohl eine Idealisierung als auch eine Verachtung bürgt den Menschen eine Rolle auf, nach der sie nie gefragt haben und auch nicht erfüllen können.

Die Entdeckung von Aspie

Durch die bürgerliche Psychiatrie ist das Bild negativ konnotiert, da von einer Störung geschrieben wird. Tony Attwood und Carol Gray, Direktorin des „The Gray Center for Social Learning and Understanding“, schlagen daher eine Abkehr des negativ-neutralen Kataloges vor und setzen sich dafür ein, Stärken von Asperger-Autist*innen zu betonen. Sie sprechen nicht von einer Diagnose, sondern der „Entdeckung von Aspie“. Die Schwierigkeiten in der zwischenmenschlichen Interaktion werden aufgebrochen und als Stärke verstanden. Diese finden sich in der Loyalität, dem geduldigem Zuhören und besonders – wie es auch Thunberg lebt – der konsequenten Verteidigung eigener Theorien und des Standpunktes, „ungeachtet des sozialen Zusammenhangs.“ Dem zusätzlich werden die Fähigkeiten der Informationssammlung und -verarbeitung, die Detailgenauigkeit und eine ausgeprägte Menschlichkeit hervorgehoben.

Das mag widersprüchlich klingen, wenn man das kolportierte Bild eines empathielosen, introvertierten Einzelgängers im Kopf behält, denn der vermeintliche emotionale Nachteil ist im Kern das Missverstehen der eigentlichen Komplexität. Temple Grandin, Tierpsychologin und Asperger-Autistin, schrieb in ihrer Autobiografie, dass sie extrem emotional sei, dies mitunter jedoch nicht unter Kontrolle habe. Nur eben anders.

Weltmeister der (Selbst-)Kritik

Diese besondere Verarbeitung ist eng verknüpft mit einer rationalen und zumeist wissenschaftlichen Grundeinstellung. Wenn es (selbst-)kritische Menschen gibt, dann sind Asperger-Autist*innen die Weltmeister*innen darin. Das erlaubt ihnen einen nüchternen und relativ frei von emotionalen Ansprüchen gewendeten Blick auf Umwelt, Gesellschaft und das große Ganze.

Es ist daher nicht ungewöhnlich, dass man rassistische, misanthrope oder ähnlich unterdrückend wirkende, diskriminatorische Einstellung bei ihnen nahezu nicht finden wird. Mark Hutten, Psychologe und Familientherapeut aus den USA, betont gerade diesen Punkt: Asperger-Autist*innen diskriminieren „niemanden auf Grund seiner Rasse, Geschlecht [oder] Alter“, hierarchische Konstrukte werden generell kritisch beleuchtet. Es gibt also sehr viele Anhaltspunkte, die belegen und betonen, dass Asperger-Autist*innen überdurchschnittlich häufig eine „soziale Ader“ haben, was das weitverbreitete Bild selbstverständlich völlig zum Fall bringt. Von einem „Schwarz-Weiß-Denken“ kann nicht gesprochen werden, denn „aspergisches“ Denken – wie Attwood und Gray es nennen – ist einer ständig Kritik und konsequenten Selbstreflexion unterworfen.

Mehr Raum für "aspergisches" Denken!

Der Asperger-Autismus wird als „Behinderung“ klassifiziert, weil Nicht-Autist*innen eine Normalität gepacht haben, die keinen Raum für „aspergisches“ Denken zulässt. Es handelt sich hierbei um keine „psychische Krankheit“, sondern um Menschen, die überaus wissbegierig, stark und einzigartig im Erkennen von Problemen sind. Weder sind sie besser noch schlechter als der Rest der Menschheit und die Entpathologisierung ist längst überfällig.

Dass sich Greta Thunberg nicht viel um Unterwerfung des kollektiven Willens schert, hat sie jüngst in ihrer Äußerung unterstrichen, dass der „Weltklimarat“ (IPCC) Atomenergie als Alternative zur dreckigen Kohle-Energie unter gewissen Bedingungen zur Diskussion stellt. Dahinter verbirgt sich keine Ideologie, sondern rationale Urteilsfindung, die man gewiss nicht teilen muss. Es ist zu hoffen, dass nicht nur ein gesellschaftlicher Sinneswandel bezüglich des Klimawandels einherkehren wird, sondern auch das Bild von Asperger-Autist*innen grundlegend überdacht wird.

„Herzlichen Glückwunsch, Sie haben Asperger“, pflegte Tony Attwood seinen Patient*innen die freudige Botschaft mitzuteilen. Es liegt nicht an den autistischen Menschen, sondern an Nicht-Autist*innen, die Schwierigkeiten haben, „aspergisches“ Denken nachvollziehen zu können.

Die Autorin wurde selbst am 2. August 2008 als Asperger-Autistin entdeckt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elisa Nowak

Freie:e Journalist:in aus Konstanz

Elisa Nowak

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