Revolutioniert das Bildungssystem

Corona Anstatt Online-Unterricht braucht es ein Umwerfen des konservativen Bildungssystem sowie das Bestehen ohne Leistung aller Lernenden des Jahres 2019/2020

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Bildung und die Übermittlung von Wissen darf nicht der kapitalistischen Verwertungslogik unterworfen werden
Bildung und die Übermittlung von Wissen darf nicht der kapitalistischen Verwertungslogik unterworfen werden

Foto: Maja Hitij/Getty Images

Die Covid19-Pandemie unterwirft alles einer Prüfung. Neben der ökonomischen Krise wird sich auch eine gesellschaftliche entwickeln, die heute noch nicht zu bemessen ist. Der Verlust der Kontrolle über die Entwicklung beziehungsweise die Uneinsicht, diese Kontrolle nie gehabt zu haben, wird bis zum heutigen Zeitpunkt aufrechterhalten. Es werden Daten in den Raum geworfen, die ein konstruiertes Ende definieren sollen, obgleich bereits bekannt ist, dass diese gesetzten Tage nur illusorisch sind. Neben der Frage, wie in einer postpandemischen Gesellschaft und Wirtschaft weitergehen soll, werden auch die derzeitigen Schwächen des deutschen Bildungssystems mehr als deutlich. In diesem Monat sollen die verordneten Schließungen aufgehoben werden, was – in der Theorie – die Aufnahme des Schulbetriebs verdeutlichen soll. Doch in der Praxis krankt diese Vorstellung stark. Der Bildungsföderalismus, ein Relikt vergangener Zeit, wird hochgehalten, was zu unterschiedlichen, teils im eigenen Bundesland verschiedenen Positionen führt. Dass eine Rückkehr zum Präsenzunterricht nach den Osterferien unmöglich ist, wird nur halb eingesehen. Dabei zeigt die Pandemie mehr als deutlich, dass eine Revolution des Bildungssystems von der Grund- bis zur Hochschule mehr als überflüssig ist.

Die Landesverordnungen im Zuge von Covid-19 erzwingen faktisch eine Neuausrichtung, auf die man alles andere als vorbereitet ist. Die Aufhebung der Schulschließungen korrelieren mit dem Versammlungsverbot. Hiernach scheint eine virtuelle Unterrichtung naheliegend. Die Problematik dahinter ist jedoch, die im föderalistischen System inhärente: die Ungleichheit der Chancen. Konzeptionen, Semester nicht gelten zu lassen oder die Zensuren so anzupassen, dass eine faktische Verschlechterung ausgeschlossen wird, sind hierbei nur Symptombekämpfung. Dadurch wird die durchziehende Ungleichheit temporär abgeschwächt, in der Konsequenz jedoch zementiert, dabei ist ein Umdenken erforderlich. Die auf Leistungsdruck und Zensurenzwang ausgerichtete Bildungspolitik steht diametral zur gesellschaftlichen Förderung und Vermittlung von Wissen. Der kapitalistische Konkurrenzkampf findet bereits in jungen Jahren statt, wenn Zensuren, welche die eigentliche Fähigkeit der Lernenden nicht abbilden können, als Gradmesser herangezogen werden, die die weitere Bildung festsetzt. Zensuren sind Momentaufnahmen, welche besonders psychologische und soziale Elemente außen vor lassen. Unterstützung kostet Geld und Geld ist ungleich verteilt. Die objektive Bedingung, ob wer in einer Arbeiter*innenfamilie oder einer großbürgerlichen geboren wird, ist hierbei elementar und nicht zu unterschätzen.

Das konservative System wird in und außerhalb der BRD schon länger kritisiert. Besonders der antagonistische Charakter der Politik wird statistisch untermauert. In der PISA-Studie 2015 der OECD wird verdeutlicht, dass der „soziale Hintergrund“ im Vergleich zu anderen Staaten wegweisend sei. Das dreigliedrige Schulsystem bestehend aus Haupt-, Realschule und Gymnasium wird dahingehend einer Kritik unterzogen, was ihre Existenz im Kern begründet: eine Selektion im frühen Jugendalter, deren Zensuren keine Aussagekraft über die weitere Entwicklung der Schüler*innen haben. Der Regierung ist diese Kritik mehr als bewusst, doch ein Umdenken ist nicht zu erwarten. Wie diese Katastrophe nun aussieht, verdeutlicht die pandemische Situation. Der ökonomischen Entscheidung gleichbedeutend werden temporäre „Hilfsmittel“ angeboten, die an der Wurzel nichts zu ändern vermögen, ganz im Gegenteil. Eine sehr wahrscheinliche Online-Unterrichtung und -Vorlesung ist hierbei Spiegelbild des konservativistischen Habitus. Dabei ist die unterentwickelte Digitalisierung hier das kleinste Problem. Schüler*innen und Student*innen in prekären Situationen, aus der Arbeiter*innenklasse, werden ein Nachsehen haben müssen, da eine ohnehin schon unzureichende Betreuung wegfällt und ein Wunsch gefordert wird, welcher unerfüllbar ist.

Die fehlende Betreuung, der zusätzliche Druck innerhalb jener Familien, die ohnehin prekär leben müssen und bedingt durch weitere Entwicklungen Sorgen haben, werden kaum die Kapazitäten haben, auf einem Niveau die Bildung zu gewährleisten, wie es der Status Quo verlangt. Kinderbetreuende Student*innen sind eines zusätzlichen Druckes unterworfen bei Online-Vorlesungen, individuell-psychische Sorgen und Probleme bedingt durch die Notsituation können nicht beachtet werden. Der Leistungszwang und Konkurrenzkampf wird zwar gemildert in Worten, doch die bürgerliche Notwendigkeit wird aufrechterhalten. Die chaotische Koordination bedingt durch den Föderalismus erlaubt im derzeitigen Moment weder Planung noch Sicherheit. Einig ist man sich nur in jenem: die Bildung nicht ausfallen zu lassen. Doch weshalb eigentlich? Die Konzepte, welche unterbreitet werden, sind in der Praxis undurchführbar; und wenn, dann einer zusätzlichen Ungleichheit unterworfen. Covid-19 zwingt die Menschheit zu der Entscheidung, den radikalen Auslöser dieser Notverordnung zu benennen und ein Umdenken zu erzwingen: nicht nur die Wirtschaft wird sich revolutionieren müssen, sondern auch die Bildung als unauslöschliche Konsequenz. Das hat zwangsweise zur Folge, dass das herrschende System einer absoluten Kritik unterwerfen muss, die nur in ihrer Überwindung gelöst werden kann.

Die Bildungspolitik muss dem Korsett des Föderalismus entrissen und zentral organisiert werden. Die mittelfristige Abschaffung der Zensuren und Momentbewertungen müssen ebenso überwunden werden wie die starre Fixierung des Drückens der Schulbank. Übermittlung von Wissen darf nicht mit Zwang und Kontrolle in Verbindung gebracht werden, sondern muss den Menschen dort abholen, wo sein Wesen gebührt werden muss: in der Anwendung des Gelernten, der kostenlosen Betreuung in kleinen Klassen sowie der wirklichen individuellen Förderung anhand der Fähigkeiten des Einzelnen, nicht unterworfen der kapitalistischen Verwertungslogik. Um die Bildung jedoch zu revolutionieren, muss das (wirtschaftliche) System an sich auf den Kopf gestellt werden. In der jetzigen Situation muss prioritär sein: die Aussetzung der Selbstverpflichtung, das Schuljahr und Semester retten zu wollen. Die Eindämmung der Pandemie bleibt an erster Stelle, die schulische Ausbildung muss hintangestellt werden. Um den Schüler*innen und Student*innen jedoch keinen Stillstand aufzuzwingen, ist das flächendeckende Bestehen des Schuljahrs 2019/2020 aller Beteiligten unabdingbar. Student*innen, die im Zuge der Pandemie keine Zweitprüfungen absolvieren können, ist das Bestehen des Wintersemester 2019/2020 anzuerkennen. Eine Pandemie wie diese darf niemandem zum Nachteil ausgelegt werden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Elisa Nowak

Freie:e Journalist:in aus Konstanz

Elisa Nowak

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