Armut abschaffen statt Bevölkerungspolitik

Eine Replik Am 24.11.2023 veröffentlichten Bruno Kern, Saral Sarkar und Ernst Schriefl als „Initiative Bevölkerungspolitik“ den Diskussionsbeitrag: "Bevölkerungswachstum – ein Schlüsselproblem unserer Zeit" und erbaten ein Feedback, das ich gerne gebe:

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Ja, die Bevölkerung wächst, und dass das zu Problemen führen kann, möchte ich nicht in Abrede stellen. Von der Notwendigkeit einer Postwachstumsgesellschaft gehe ich ebenso aus wie ihr. Allerdings teile ich weder eure Analysen noch die Schlussfolgerungen daraus, und schon gar nicht eure Vorschläge. Im Folgenden eine kurze Begründung.

Wachsende Bevölkerungen sind in erster Linie ein Ergebnis von Armut. Insofern ist nicht das Bevölkerungswachstum an sich das Problem, sondern die Armut und Ungleichheit. Der von euch angeführte „materielle Verbrauch pro Kopf“ ist eine nichtssagende, ja geradezu Verhältnisse von Ausbeutung und daraus resultierender Ungleichheit verschleiernde Größe. So veröffentlichte beispielsweise Oxfam im November 2023 die Studie „Carbon Billionaires: The investment emissions of the world’s richest people“, die belegt: „Die 125 untersuchten Milliardär*innen haben zusammen ‚Investitions-Emissionen‘, die dem Treibhausgas-Fußabdruck ganzer Länder entsprechen“1.

Während ihr das vermeintliche Tabu des Bevölkerungswachstums brechen wollte, scheint ihr die Klassenfrage und jegliche Vorstellungen von anders als kapitalistisch organisierten Gesellschaften zu tabuisieren. Nicht der Pro-Kopf-Verbrauch allgemein, sondern der überbordende Verbrauch der Reichen muss sinken, ebenso wie die Produktion nicht lebensnotwendiger Luxusgüter abzuschaffen wäre. Denn viele Menschen auf dieser Welt, die unter ärmsten Bedingungen über die Runden kommen müssen, sind für ein gutes Leben auf einen steigenden materiellen Wohlstand angewiesen. Sie brauchen nicht den vermeintlichen Fortschritt, mit dem massenhaft Bevölkerungen des Globalen Südens ihrer Subsistenzgrundlagen beraubt, vertrieben und als „doppelt freie Lohnarbeiter“ in Ausbeutungsverhältnisse gezwungen werden. Sie brauchen keine entwürdigenden Jobs, aber die Möglichkeit, in ihren Gemeinschaften selbstbestimmt und kollektiv das Lebensnotwendige zu erwirtschaften um sich selbst aus der Armut zu befreien.

Ihr schreibt, „dass technologische Innovationen alleine bei weitem nicht ausreichen werden, uns ‚zu retten‘“. Aber eine zuerst technologisch definierte Energiewende reicht nicht nur nicht aus, sondern ist ein fataler Irrweg, denn sie dient viel zu oft dazu, zu suggerieren, dass ein Weiter-So möglich wäre. Gleichzeitig werden technische Innovationen (zum Beispiel Teslas Elektro-SUVs, LNGs oder CCS) im Interesse profitabler Verwertbareit entwickelt – ohne Rücksicht auf daraus resultierende überbordende Energie-, Wasser- und Naturschätze-Verbräuche.

Wir sind uns einig, dass der Verbrauch reduziert werden muss. Nach meiner Überzeugung ist das zuerst eine sozialpolitische Frage und eine Frage der Macht. Während für die vielen Armen weltweit Nahrungsmittel- und Energiesichertheit herzustellen wäre, müsste der Verbrauch der wenigen Reichen drastisch eingeschränkt werden. Ein global tragfähiges Maß – bei dem sicher die Mittelschichten auch auf einiges zu verzichten hätten – müsste von unten, durch demokratisierte wirtschaftliche Strukturen, vor allem hinsichtlich Ernährungs- und Energiesouveränität, entwickelt werden.

Wie das umgesetzt werden kann, und wie Staaten motiviert und befähigt werden könnten, Souveränitäts- und Gerechtigkeitshindernisse aus dem Weg zu räumen – also stark gegenüber den Mächtigen aufzutreten, statt die Bevölkerung zu drangsalieren – sehe ich als eine der wichtigsten strategischen Fragen an, vor der ich auch eher ratlos stehe. Sind nicht Staaten schon immer Sachwalter des Kapitals und Garant seiner Verwertungsbedingungen?

Euren Ansatz, bevölkerungspolitisch auf die Länder des Globalen Südens einwirken zu wollen, empfinde ich als anmaßend und illegitim – die Frage danach werft ihr ja selbst auf, und ich kann nicht nachvollziehen, warum und mit welcher Argumentation ihr euch darüber hinweg setzt.

Wir leben in Deutschland, einem der reichsten und mächtigsten Länder der Erde. Einem Land, das schon so viel Elend über die Welt gebracht hat und dies mit seiner Wirtschaftspolitik weiterhin tut. Das wäre doch ein Ansatzpunkt, statt in belehrendem Modus des Förderns und Forderns auf andere Länder einwirken zu wollen. Wie kommt ihr überhaupt darauf, mit dem „eigenen Interesse der betroffenen Länder“ zu argumentieren? Mir geht es nach wie vor nicht um nationale Interessen, sondern um die betroffenen Menschen. Und in deren Interesse ist es nicht, sie mit bevölkerungspolitischen Maßnahmen zu gängeln. Der Katalog, den ihr schönfärberisch als „eine ganze Reihe nicht-repressiver Maßnahmen“ vorschlagt, entlarvt sich selbst: Armen, vielleicht sogar hungernden Menschen „finanzielle Anreize bei freiwilligen Sterilisationen“ anzubieten, ist materielle Gewalt und entwürdigende Biopolititk, ebenso wie die „staatliche Garantie einer Altersversorgung für die ärmeren Schichten, die an den Verzicht auf Kinder über zwei hinaus gekoppelt ist“. Darüber hinaus werden Frauen, die dann doch zum dritten mal schwanger werden, ebenso wie ihr Kind, größten Gefahren ausgesetzt.

Dieses ganze Denken, dass Menschen als „zu viel“ ansieht, öffnet Tür und Tor für die Aufteilung in notwendige und „überflüssige“ Menschen und weckt übelste Erinnerungen. Gegen ein solches Denken hat Werner Boote – der Filmemacher, von dem auch „Plastic Planet“ und gemeinsam mit der engagierten Journalistin Kathrin Hartmann „Die Grüne Lüge“ stammt – vor über 10 Jahren den Film „Population Boom“ gedreht. Darin bringt er dieses Denken auf den Punkt, indem er die Frage stellt, wer von uns denn zu viel sei2.

Angesichts der Dringlichkeit der Situation ist es notwendig, dass sich kritische Menschen und Bewegungen zusammen tun und gemeinsam Vorschläge und Forderungen an die Öffentlichkeit tragen. Die Frage des Bevölkerungswachstums halte ich dafür für ungeeignet und nachrangig. Ich habe großes Vertrauen darein, dass Gesellschaften und Gemeinschaften, die den Dreiklang von Patriarchat, Kolonialismus und Kapitalismus nicht nur verbal ablehnen, sondern ernsthafte Schritte unternehmen, um diese Unterdrückungs-, Gewalt- und Ausbeutungsstrukturen abzuschaffen, je eigene Umgangsformen mit Fragen der Reproduktion – sowohl des Gebärens als auch der Geburtenkontrolle – finden werden. In eurem Papier vermisse ich jegliche ökosozialistische Analyse und Perspektive. Statt den Fokus auf die Abschaffung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen zu legen, lese ich daraus einen patriarchalen Impuls, der auf Machbarkeit setzt, ohne soziale Beziehungen und deren Dynamiken in den Blick zu nehmen.

Ich unterstelle euch keinerlei böse Absichten, bin aber sehr irritiert. So etwas hätte ich von euch nicht erwartet. Lasst uns gerne reden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

elisvoss

Freiberufliche Autorin, Journalistin, Vortragende und Beraterin zu Solidarischem Wirtschaften und Selbstorganisation in Wirtschaft und Gesellschaft.

elisvoss

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