Schwanger und nicht schwanger im Kapitalismus

Abtreibung Wenn der Abwehrkampf gegen Rechts im Vordergrund steht, droht der progressive Diskurs über Frauenrechte zu verkümmern
Ausgabe 38/2018
Schütze, schütze, Schildle male
Schütze, schütze, Schildle male

Foto: Imago/Seeliger

Einmal war ich bei der Kundgebung der Abtreibungsgegnerinnen des „Marschs für das Leben“ in Berlin. Ich wollte mir für einen Artikel anschauen, was für Reden die christlichen Fundamentalisten halten. Und war überrascht: Denn es ging um den Kapitalismus. Es wurde die Sorge geäußert, dass Menschen mit der Legalisierung von Sterbehilfe nahegelegt werden könnte, endlich zu sterben, um teure Kosten für die Lebenserhaltung zu sparen. Die Sorge, dass Frauen nicht deshalb abtreiben, weil sie kein Kind haben wollen, sondern aus finanziellen Gründen. Die Sorge, dass mit der pränatalen Diagnostik Schwangere unter Druck gesetzt werden könnten, den Fötus abzutreiben, wenn eine Behinderung festgestellt wird: weil nur leistungsfähiges Leben im Kapitalismus zählt. Hier wurde die Rednerin unterbrochen. „Meine Fotze, meine Entscheidung!“, brüllten Frauen, die vom feministischen „What the fuck“-Bündnis zur Kundgebung vorgestoßen waren.

Ich gebe es zu: In diesem einen Moment hätte ich lieber die Rede der Christinnen zu Ende gehört. Ich hätte lieber meinen Gedanken über Krankheit und Behinderung im Kapitalismus nachgehangen, über die Frage, ob ich eine Schwangerschaft noch weit nach dem dritten Monat beenden würde, wenn eine Ärztin mir sagt, das Baby würde schwer behindert sein, wenn ich es auf die Welt bringen würde. Würde ich mich trauen, es zu bekommen, wenn Ärzte und Freundinnen mir davon abraten würden? „My body, my choice!“, brüllten die Frauen, und in diesem einen Moment habe ich mir gewünscht, dass sie mal kurz die Klappe halten. Dass wir darüber reden, über diese Fragen da auf dem Podium.

Aber natürlich haben sie recht, die Protestierenden: Sie haben recht damit, das Recht auf Abbruch einer Schwangerschaft zu verteidigen, dieses Recht auf körperliche Selbstbestimmung, das Frauen sich so hart erkämpft haben und das nun von rechts angegriffen wird, indem Abtreibungen durchführende Ärztinnen kriminalisiert werden. Ich kann die Wut der Demonstrantinnen nachvollziehen, auch mir darf niemand dieses Recht nehmen. „My body, my choice“ ist richtig. Aber das ist es nur dann, wenn man diese Forderung auch im linken Diskurs in ihrer vollen Komplexität behandelt: Was heißt denn eigentlich „freie Entscheidung“? Ab wann ist eine Entscheidung wirklich frei, im Kapitalismus, im Patriarchat? Teilen wir die Sorge, dass, wenn der Sachzwang regiert, kranke Menschen oder Menschen mit Behinderung nicht genug gesellschaftliche Unterstützung erfahren, weil nur die Leistungsstarken zählen – und die Wirtschaft bestimmt, was als Leistung zählt? Im Kampf um das Recht auf Abtreibung zeigt sich ein Problem, das derzeit überall aufscheint: Wenn der Abwehrkampf gegen rechts im Vordergrund ist, droht der progressive Diskurs zu verkümmern. Er muss stets weiterentwickelt werden: der linke und feministische Beitrag zur Debatte, wie wir leben wollen.

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Geschrieben von

Elsa Koester

Redakteurin „Politik“, verantwortlich für das Wochenthema

Elsa Koester wuchs als Tochter einer Pied-Noir-Französin aus Tunesien und eines friesischen Deutschen in Wilhelmshaven auf. In Berlin studierte sie Neuere deutsche Literatur, Soziologie und Politikwissenschaft. Nach einigen Jahren als selbstständige Social-Media-Redakteurin absolvierte sie ihr Volontariat bei der Tageszeitung neues deutschland. Seit 2018 ist sie Redakteurin für Politik beim Freitag, seit 2020 für das Wochenthema und die Titelseite zuständig. Sie schreibt am liebsten Reportagen von den Rändern der Republik und beobachtet mit großer Spannung die Umgestaltung des politischen Systems im Grünen Kapitalismus.

Elsa Koester

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