Jeder gelebte Augenblick

Literatur Vor zwei Jahren starb Peter Kurzeck, sein Romanprojekt „Das alte Jahrhundert“ blieb unvollendet
Ausgabe 48/2015

„ICH WOHNUNG jetzt mußt du schnell gehen, sonst läßt dich die wohnung nicht los (…) noch einen schluck vergessenen kalten kaffee. noch zwei verlaine gedichte. einen apfel essen. ein paar weintrauben. selbstgespräche (…) noch fünf wörter auf einen notizzettel, alle fenster zu. schon zu spät dran.“

Peter Kurzeck war ein begnadeter Erzähler: Selbstgespräche, das ist, vermutete man ergo, das Medium, aus dem heraus Peter Kurzeck seine Romane schrieb, Notizzettel kamen einem eher nicht in den Sinn. Doch die Dokumente zu seinem nachgelassenen Romanfragment Wenn er kommt zeigen seinen vielen Fans jetzt, wie sehr er seine Bücher aus Notizzetteln komponierte. Offenbar notierte er ebenso exzessiv – auf Kassenbons oder Teebeutelhüllen –, wie er vor sich hin erzählte.

Peter Kurzeck ist am 25. November 2013, wenige Monate nach seinem 70. Geburtstag, gestorben. Auf einer Geburtstagsveranstaltung hatte er noch zu extemporieren begonnen, was er schreiben werde, wenn er sein Projekt Das alte Jahrhundert nur erst beendet habe. Auf zwölf Bände war das angelegt; er saß gerade am sechsten. Man hat ihm unbesehen abgenommen, dass er ewig, mindestens so lang leben würde, bis aber auch alles geschrieben war, was es irgend für ihn zu schreiben gab. Also doch ewig.

Zwei Jahre nach seinem Tod liegt nun vor, was von seinem sechsten Band vorzulegen war: knapp 190 mehr oder weniger durchgeschriebene Seiten, noch einmal 160 Seiten Notizen, Entwürfe, Dokumente. Herausgegeben von seinen seit Jahren Getreuen im Verlag, Rudi Deuble und Alexander Losse. Hier ist er längst schon in die Schleife eingetreten, des Schreibens darüber, was er macht – als es mit der Freundin noch gut zu gehen schien, als das Töchterchen seiner bedurfte –, wenn er nicht schreibt und was er schreibt, wenn er denn schreibt.

Gerade ist er 40 geworden; es ist also 1983. „Morgens schreibst du und abends trägst du die Notizzettel ein, sagt Sibylle, als sei damit alles für immer geregelt.“ Er schreibt an seinem dritten Roman, Kein Frühling, der 1987 erschien und ihn bekannter machte. Ab da spätestens hatte er seine – stetig wachsende – Gemeinde. Da ist noch kein Gedanke ans spätere Großprojekt, da schreibt er noch über die Stauffenberg-Zeit, über Kindheit und Jugend. Da ist aber schon der Singsang, der unverwechselbare, sind die rondoartigen Selbsteinbettungen, Beschwörungsformeln, poetisch. Gehetzt und vertrauend zugleich. Hier hat man längst den Eindruck eines Schattens, der sich seinen Schlemihl erschrieb. Jeder gelebte Augenblick erscheint unter der Prämisse seiner Notierbarkeit, während die Notation schon wieder den Augenblick verändert, schreibt er nach vorn und hinten zugleich, schließt an andere Augenblicke an, verläuft sich, holt sich wieder ein und ist schon wieder an allem vorbei.

Ein langer, langer Weg

So ist eigentlich ganz gleich, worum es nun hier geht: Carina in die Krippe bringen, ihr abends vorlesen, Kaffee trinken oder Musik hören – und immer wieder unterwegs, auf den Straßen Frankfurts. Hinweg. Herweg. Die reichen Erinnerungen an das karge Leben auf dem Land. Die Bauzäune und die Penner in der Stadt. Telefonieren, rauchen. Angerufen werden, von Freund Jürgen, der es ist, der kommen soll, der in Südfrankreich lebt und dem die Freundin grad davon ist. Alle paar Stunden ruft er an: Sie ist noch immer weg. (Kurzeck selbst war ein Meister in solchen Anrufen.) So ungefähr wäre es wohl auch weitergegangen: „morgens mit sibylle und carina milchkaffee, notizzettel, mein manuskript und im kopf eine fortld. buchhaltung f. d. schrecken der nacht.“ Derart beginnt ja der Roman: „Nachts aufwachen! Jäh! Ein Schreck! Wo bin ich? Und wer? Wer gewesen?“

Es wäre so weiter und weiter gegangen, wenn er denn nicht gestorben wäre. Keiner stirbt hatte 1990 Peter Kurzecks für mich noch immer schönster Roman versprochen. Wer ihn nun vielleicht doch noch kennenlernen und sich auf einen langen, langen Weg mit ihm einlassen will, der lese den zuerst. Wagemutigere greifen gleich zum monumentalen Vorabend mit seinen über 1.000 Seiten, ein wahrhaftes Jahrzehntebuch. Die Gemeinde, nehme ich an, wird derweil ebenso geduldig auf weitere Verzettelungen des Alten Jahrhunderts hoffen, wie sie den kommenden Romanen entgegensah. Aber so oder so wird er wieder und wieder vorbeikommen.

Info

Bis er kommt Peter Kurzeck Rudi Deuble, Alexander Losse (Hg.), Stroemfeld 2015, 320 S., 24 €

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