Maxim Billers literarisches Werk ist durchzogen von fiktionalen Varianten seiner Biografie. Oft steht eine jüdische Familie im Zentrum, die aus der ehemaligen Sowjetunion nach Prag und von dort nach Hamburg emigriert ist. Die Figuren haben unübersehbare Ähnlichkeiten mit Biller selbst, seinen Weggefährten, Personen aus dem literarischen Leben und Familienmitgliedern. Immer wieder taucht etwa ein Vater auf, der Übersetzer ist und der seine Familie nach der Übersiedelung nach Hamburg für eine deutsche Frau verlässt; eine Mutter, die ein spätes literarisches Debüt hat; ein Sohn, der Schriftsteller ist, der von Hamburg nach München und von dort nach Berlin zieht.
Auch in Billers neuem Roman Mama Odessa gibt es diese vertrauten Figuren und M
auten Figuren und Motive. Im Zentrum steht die Beziehung zwischen dem Schriftsteller Mischa Grinbaum und seiner Mutter Aljona, die mithilfe ihres Sohns im Alter von etwa 70 Jahren ihren ersten und einzigen Roman veröffentlicht. Doch viel entscheidender als die Parallelen zum Leben des Autors sind die Variationen seines großen Themas: Was geschieht, wenn aus dem Leben Literatur wird?In der fiktiven Familie aus Mama Odessa fühlt sich niemand am richtigen Ort. Wie man aus Rückblicken des Erzählers erfährt, wanderten Vater, Mutter und Sohn Anfang der 1970er Jahre von Odessa nach Hamburg aus, wo sie sich in dem einstmals jüdisch geprägten Grindelviertel niederließen. Grund für die Emigration war das politische Engagement des Vaters Gena, der als Gründer einer zionistischen Gruppe in der UdSSR vom KGB beobachtet und sogar zur Zielscheibe eines Giftanschlags wurde. Dieser Anschlag traf jedoch nicht ihn, sondern die Mutter, die an den Folgen Jahrzehnte später schwer erkrankte.Der zweite und eigentliche Teil der Familientragödie ereignet sich während der Hamburger Zeit. Das Verhängnis in der Geschichte der Grinbaums liegt darin, dass der gemeinsame Wunsch, ein neues Zuhause zu finden und an einem Ort anzukommen, letztlich zu ihrer Entzweiung führt. Die Rückkehr in die Heimatstadt Odessa, in der die jüdische Bevölkerung auch nach dem Krieg antisemitischen Diskriminierungen ausgesetzt ist, bleibt ihnen nach der Ausreise für immer versperrt„Mama Odessa“ von Maxim Biller ist einerseits eine Liebesgeschichte und andererseits eine Reflexion über die Poetik des AutorsDas Leben in Hamburg, „unter alten Nazis“, in einem Viertel, in dem von den zahlreichen „Synagogen, koscheren Kantinen und Rabbinerschulen“ der Vorkriegszeit nichts mehr übrig ist, löst bei der Mutter zunehmende Verbitterung, beim Sohn ein Gefühl des Fremdseins aus. Der Vater wiederum hört nicht auf, von einem Leben in Israel zu „faseln“ – eine Fantasie, die von seiner Familie und seinen Freunden als Hirngespinst abgetan wird. Weil Aljona die Sehnsucht nach Israel nicht teilt, reist Gena schließlich allein dorthin – und verliebt sich ironischerweise in eine junge deutsche Kibbuz-Volontärin, die von der verlassenen Mutter und dem Sohn nur als „Nazi-Hure“ oder „KZ-Aufseherin“ bezeichnet wird. Aber auch an der Seite seiner neuen Frau bleibt der Auswanderungstraum des Vaters unerfüllt: Er zieht in ein bürgerliches Reihenhaus in Hamburg-Othmarschen.Die Literatur wird Mutter und Sohn zum Medium, um die Ursachen dieser Ereignisketten zu verstehen. Während der Vater, seit er zur Hauptfigur von Mischas zweitem Roman wurde, mit seinem Sohn kaum noch ein Wort spricht, beginnen Mischa und Aljona um die Hoheit über die Familiengeschichte zu konkurrieren. Von Aljona übernimmt Mischa seine realistische Poetik: „‚Wusstest du‘, sagte ich, erstaunt über meine plötzliche Einsicht und Ehrlichkeit, ‚dass ich das von dir gelernt habe‘. ‚Was hast du von mir gelernt?‘ ‚Dass man sich nichts wirklich ausdenken muss. Keine deiner Geschichten ist ausgedacht. Darum sind sie so gut.‘“Die Literatur erzeugt zwar regelmäßig Konflikte zwischen Mutter und Sohn, die darüber streiten, wem die erlebten Geschichten „gehören“. Andererseits ermöglicht sie aber auch eine große Nähe. Als Mischa seiner Mutter etwa am Telefon erklärt, dass er von der neuen Freundin des Vaters nichts hören wolle, begegnet sie ihm monatelang mit Distanz und Kälte. Aber nachdem der Roman über Gena erschienen ist, nähern sie sich wieder an: „‚Das Buch über deinen Vater, schrieb mir meine Mutter am 2. November 2007, ‚ist wirklich sehr gut. Du schreibst ja wie der Teufel!‘“ In der Komposition von Mama Odessa wechselt sich der Bericht des Erzählers mit kursiv gedruckten Erzählungen der Mutter ab, sodass beide Stimmen und Perspektiven ineinander übergehen.Billers Roman ist somit zweierlei: Er ist einerseits eine Liebesgeschichte zwischen Mutter und Sohn, die ungeachtet einer Vielzahl von Missverständnissen und Kränkungen immer wieder zusammenfinden. Er ist andererseits aber auch eine Reflexion über die Poetik des Autors. Angesichts des 20-jährigen Publikationsjubiläums von Billers verbotenem Roman Esra ist es vielleicht kein Zufall, dass Mama Odessa immer wieder die Frage aufwirft, was Literatur eigentlich darf und wo ihre Grenzen liegen. 2003 war Esra verboten worden, weil Billers ehemalige Lebensgefährtin und deren Mutter darin eine Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte erkannt hatten.In einer umstrittenen Entscheidung bestätigte das Bundesverfassungsgericht 2007 das Verbot. Es ist deshalb programmatisch zu verstehen, wenn Aljona, als sie sich in einer Szene am Ende des Romans „kaum verfremdet“ in einer Erzählung ihres Sohns wiederfindet, zunächst „böse“ zu sein scheint, letztlich aber mit Lob und Anerkennung reagiert: „Das war wirklich eine sehr schöne Rache, mein Sohn! Literatur darf das natürlich. Ich bin sehr stolz auf dich.“ Literatur, so ein Grundgedanke des Romans, ist – gerade weil sie aus dem Leben schöpft – nicht ohne Verletzungen möglich. Das ist kein Makel, sondern eine Qualität.Placeholder infobox-1