Der süße Schmerz der Existenz

Leben Eine Erinnerung aus der Schulzeit kehrt zurück und mit ihr ein Zitat von Heinrich Heine.

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An einer Außenwand im Eingangsbereich meines alten Gymnasiums prangte damals ein Satz, den ein Schüler eines nachts dort hingesprayt hatte: „Tirili, tirila, ich lebe! Ich spüre den süßen Schmerz der Existenz“, nicht ganz korrekt zitiert von Heinrich Heine. Unser damaliger Schulrektor, den wir Schüler alle unheimlich gern hatten und den die Lehrer eher nicht so gern hatten, fand den Spruch so gut, dass er ihn stehen ließ, obwohl viele Erwachsene, sowohl Lehrer, Hausmeister als auch Eltern das ganze als Verschandelung verstanden. Als wir einen neuen Rektor bekamen (der nicht zu unrecht den Namen Ramming trug), ließ dieser umgehend das Heine-Zitat entfernen, was zu regelrechten Aufständen von uns Schülern und auch einigen Lehrern führte. Wir hatten Erfolg, der Satz wurde nachträglich wieder angebracht und soweit ich mich erinnere, vom Kunst-Leistungskurs noch verziert und aufgehübscht. Die rohe Schönheit des Originals war jedoch verloren, leider.

Aus irgendeinem Grund kam mir dieser Spruch heute wieder in den Sinn. Die Sonne strahlte in mein Gesicht und auf der Nürnberger Messe strömten – gemächlich – hunderte Senioren zur inviva („die Messe für das Leben ab 50“), um sich dort von Gesundheitsexperten Tipps für den Umgang und die Vorbeugung von Alterskrankheiten abzuholen. Irgendwie passte alles zusammen. Das Vitamin D floss wieder nach vielen grauen Tagen und Wochen und inmitten all der alten Menschen fühlte ich mich jung und frisch. So jung und frisch auch wieder nicht, auch ich spüre den süßen Schmerz der Existenz natürlich längst. Und so sehr viele Menschen sich wohl die sogenannte Sorglosigkeit wünschen würden, was wäre denn ein Leben ohne Schmerz? Ohne Rückschläge, Liebeskummer, Verlust?

Als mir der Spruch heute wieder einfiel, musste ich sofort herausfinden, woher das Zitat war. Heinrich Heine also, erklärte mir das Internet, schrieb diesen Satz in seinem Essay „Reise von München nach Genua“, und vollständig lautet das Zitat folgendermaßen:

Tirili! Tirili! Ich lebe! Ich fühle den süßen Schmerz der Existenz, ich fühle alle Freuden und Qualen der Welt, ich leide für das Heil des ganzen Menschengeschlechts, ich büße dessen Sünden, aber ich genieße sie auch.“

Was für ein Satz! Eine knappe philosophische Zusammenfassung des Menschen der Neuzeit. Büßen und genießen, ja das tun wir tagein, tagaus. Stets konfrontiert mit unseren Verfehlungen, unseren Verbrechen, unserem Versagen, und doch der Sonne entgegen. Wir leben. Wir spüren den süßen Schmerz der Existenz. Und das ist auch gut so.

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Geschrieben von

Ernstchen

Wortbürger. Musikmann. Mitmensch.

Ernstchen

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