Patriarchaler Täterschutz

Voyeurismus Frauen werden immer öfter heimlich mit Minikameras gefilmt – auch an Orten, die eigentlich als links gelten
Ausgabe 10/2020
Patriarchaler Täterschutz

Illustration: Gabor Farkasch für der Freitag

Zuerst war da das Gefühl der Ohnmacht. Als Ella*, 28, Anfang Januar erfuhr, dass heimlich gemachte intime Aufnahmen von ihr im Internet kursieren könnten. Über Facebook wurde sie auf den Bericht der Journalistin Patrizia Schlosser aufmerksam, die mehr als ein Jahr zu voyeuristischen Aufnahmen recherchierte, welche auf dem Festival „Monas Rache“ entstanden waren, und schließlich zwei der zahlreichen Täter stellte. Einer war Teil der Festivalcrew und nutzte seine Stelle, um in den Toiletten auf dem Gelände eine winzige Kamera zu installieren. Die Aufnahmen tauschte, verkaufte und veröffentlichte er auf einer Pornoseite. Hunderte Menschen sind potenziell betroffen, laut den Recherchen primär Frauen. Eigentlich wollte Ella die Dokumentation nicht bis zum Schluss anschauen. Der lapidare Plauderton der Journalistin, die wie eine Detektivin auf die große Konfrontation mit dem Täter hinarbeitet, und die lieblose Ansage der Festivalcrew, man wisse seit mehreren Monaten um die Vorfälle, könne angesichts der Situation aber nicht auf Nachfragen reagieren, verärgerten sie.

Vergewaltigt im Conne Island

Die angekündigte Erklärung seitens des Festivals blieb zunächst aus. Aus Sicht vieler Betroffener ein Fehler, der mit einem ausführlichen Statement fast einen Monat nach Bekanntwerden der Vorfälle nicht gutzumachen war. Dass linke Räume nicht frei von Sexismus und sexualisierter Gewalt sind, ist keine Überraschung. Anfang des Jahres veröffentlichte das alternative Leipziger Zentrum Conne Island eine Stellungnahme zu einer Vergewaltigung, die während eines Konzerts Ende Dezember auf der Bühne passierte. Der Täter wurde angezeigt, der Betroffenen bedingungslose Solidarität zugesichert. Auch auf dem linken Technofestival „Fusion“ wurden heimlich Videos von Menschen beim Duschen aufgenommen und online gestellt, wie der Verein Kulturkosmos Müritz Anfang Februar bekannt gab. Die Löschung wurde sofort durch einen Anwalt veranlasst, gegen den Täter ermittelt und Strafanzeige erstattet. Die Vorfälle zeigen, wie unterschiedlich der Umgang mit sexualisierter Gewalt in den eigenen linken Reihen sein kann und wie nötig eine Auseinandersetzung darüber ist.

Ein Konglomerat aus verschiedenen Voraussetzungen lähmte die schnelle Aufarbeitung der Geschehnisse bei „Monis Rache“ – das lässt sich nun aus dem ausführlicheren Statement der Gesamtgruppe herauslesen. Ein Kollektiv, das von sich selbst behauptet, hierarchiearm und auf Vertrauensbasis zu arbeiten, stand sich mit diesem Anspruch selbst im Weg. Denn statt die Mitglieder aller Planungsgruppen und damit auch weitere potenziell Betroffene durch eine Vollversammlung in den Aufarbeitungsprozess miteinzubeziehen, behielt ein kleiner Kreis von zunächst acht Eingeweihten den Vorfall für sich, darunter enge Freund*innen des Täters. Mit dem Ansatz der „transformative justice“, einem gemeinschaftlichen Umgang mit Gewalterfahrungen im eigenen Umfeld ohne Justiz und Polizei, wollte die Kleingruppe zu Beginn die Geschehnisse aufarbeiten. Die Einhaltung der auferlegten „Strafen“ – der Täter sollte sich von Frauen und Partys fernhalten, aus seinem Leipziger Hausprojekt ausziehen und sämtliches voyeuristisches Material löschen – wurde nicht überprüft. Nach Veröffentlichung der Reportage wurde bekannt, dass er im Dezember 2019 für den Aufbau einer Festivalbühne in Leipzig einbezogen wurde.

Das Statement, das unter Ausschluss der Ersteingeweihten vom Festivalteam erarbeitet und veröffentlicht wurde, verurteilt, dass durch deren „fahrlässiges Handeln ungewollt Täterschutz betrieben“ wurde, und entschuldigt sich in so gut wie jedem der 17 Kapitel dafür. Betroffenheit und Überforderung sprechen aus dem Text. Es würde keine Anzeige erstattet, heißt es. Die autonom geprägte Gruppe habe zur „Zusammenarbeit mit Behörden“ keinen Konsens finden können. Auf der Homepage findet sich ein Leitfaden für alle, die das dennoch tun möchten. Dabei läge in der Betroffenheit auch das Potenzial, Kräfte zu mobilisieren, um aus der Ohnmacht auszubrechen, meint Ans Hartmann vom Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland. Hartmann hat sich auf Beratung im Umgang mit digitaler Gewalt spezialisiert. Fälle wie die Videoaufnahmen bei „Monis Rache“ seien alltäglich: „Seit es kamerafähige Handys gibt, digitalisiert sich auch die geschlechtsspezifische Gewalt. In einer idealen Gesellschaft gäbe es den Konsens, dass man so was natürlich nicht tut. Trotzdem gibt es diese Aufnahmen. Sie sind Ausdruck einer Gesellschaft, die auf patriarchalen Machtverhältnissen beruht.“ Das betreffe dann auch linke Räume.

Ordnungswidrigkeit

Deutschland sei mit der Diskussion um die Aufnahmen spät dran, meint Hartmann. Mit den technischen Möglichkeiten multiplizieren sich die Formen der sexuellen Belästigung, die Justiz hängt häufig hinterher. Mitte Februar schrieb die Rapperin Reyhan Şahin auf Twitter, dass einer ihrer Personenschützer, zu ihrer Überraschung, routinemäßig Clubtoiletten auf installierte Minikameras prüfte. In Südkorea ist es Aufgabe des Putzpersonals und staatlich beauftragter Spezialkräfte, öffentliche Toiletten nach Kameras abzusuchen, nachdem Massenproteste gegen voyeuristische Aufnahmen die Regierung unter Druck gesetzt hatten.

Vergangenes Jahr starteten die Regisseurin Hanna Seidel und die Journalistin Ida Sassenberg eine Petition, die forderte, dass das sogenannte „Upskirting“ – das heimliche Filmen unter dem Rock – in Deutschland als Straftat anerkannt wird. Während das heimliche Filmen auf der Toilette den „höchstpersönlichen Lebensbereich“ verletzt und daher bereits als Straftat gilt, ist das unerlaubte Filmen in der Öffentlichkeit lediglich eine Ordnungswidrigkeit. Ein Gesetzesentwurf, der das Filmen unter Strafe stellt, wurde im Anschluss an die Petition eingebracht. Der Rechtsausschuss des Bundesrates billigte den Entwurf und empfahl sogar, ihn auch auf das Filmen weiblicher Dekolletés auszuweiten.

Da die Aufnahmen aber in der Regel unbemerkt angefertigt werden, kommt es meist gar nicht zur Strafverfolgung. Werden Fälle öffentlich, wie im Fall von „Monis Rache“, sind die Betroffenen zunächst schockiert. „Am wichtigsten ist, dass in solchen Fällen schnell reagiert und gefragt wird, was die Betroffenen eigentlich wollen“, sagt Hartmann. Während das Team von „Monis Rache“ einen Monat lang schwieg, begann Ella zu reden. Zunächst mit Freund*innen, dann in immer größer werdenden Gruppen. Binnen wenigen Tagen gründete sich eine Chatgruppe mit mehr als 1.000 Betroffenen. „Es tat gut, die Last auf mehrere Schultern aufzuteilen und sich auszutauschen“, sagt Ella, „die Welle der Solidarität holte mich aus diesem Gefühl der Ohnmacht heraus.“ Ella erstattete Strafanzeige. Davon erhoffe sie sich keine konkrete Reaktion, es habe sich dennoch gut angefühlt. In Deutschland drohen für das Anfertigen voyeuristischer Videos im „höchstpersönlichen Lebensbereich“ bis zu zwei Jahre Haft.

Aus der digitalen Vernetzung folgten selbst organisierte Treffen von Betroffenen in Leipzig und Berlin. Dort ging es nicht mehr nur um die Vorfälle bei „Monis Rache“, sondern um eine Realität, in der die kleine Festivalutopie nur ein Ausschnitt ist. „Als Frauen teilen wir die Erfahrungen im öffentlichen Raum: Unsere Körper werden angeguckt und bewertet. In diesen Blicken zeichnet sich ein Machtgefälle ab, das Frauen auf der ganzen Welt verbindet. Das ist einerseits deprimierend, kann aber auch ein ermächtigendes Moment beinhalten, wenn wir uns zusammentun.“ Eine Demonstration unter dem Motto „Rache am Patriarchat“, die unter anderem anlässlich der Vorfälle auf den Festivals „Fusion“ und „Monis Rache“ organisiert wurde, hatte das zum Ziel. Am 14. Februar kamen in Berlin etwa 2.000 Teilnehmer*innen zusammen.

Das anfängliche Gefühl der Ohnmacht sei jetzt weg, sagt Ella. Damit sie wieder entspannt feiern kann, müsse sich aber grundsätzlich auch auf linken Festivals etwas verändern. „Es ist schön, wenn ein Festival Hierarchien abbauen will. Aber an diesem Punkt müssen wir aus der Naivität aufwachen und uns fragen: Was passiert in der Utopie – und wie handeln wir jetzt?“ Es reiche nicht, einen schön dekorierten Stand auf Festivals zu stellen, an dem sich Menschen Broschüren zum Umgang mit sexualisierter Gewalt durchlesen und Ohrenstöpsel abholen können. Auf „Monis Rache“ wird es so bald auch dazu nicht mehr kommen. Aufgrund der Vorkommnisse wurde das Festival für 2020 abgesagt.

Info

*Name wurde geändert

Eva Hoffmann ist freie Autorin in Tübingen

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Geschrieben von

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